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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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schrieben, die nur wenig mit den Träumen und Erwartungen zu tun hatten, mit denen seine Schüler in die Straßen Kalkuttas ausschwärmten.
    Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dem Wunsch zu widerstehen, die Schritte seiner Schüler zu verfolgen, sobald er nicht mehr seine Hand über sie halten konnte. Für Thomas Carter war der Abschied mit dem bitteren Geschmack der Enttäuschung verbunden, nachdem er irgendwann gemerkt hatte, dass das Leben diesen Jungen und Mädchen mit der Vergangenheit auch die Zukunft genommen zu haben schien.
    An jenem warmen Maiabend, als die Stimmen der Jugendlichen von dem kleinen Abschiedsfest zu ihm heraufdrangen, das im Hinterhof des Gebäudes gefeiert wurde, betrachtete Thomas Carter aus der Dunkelheit seines Büros die Lichter der Stadt, die unter der Sternenkuppel funkelten, und die Schwärme schwarzer Wolken, die dem Horizont entgegenzogen wie dunkle Tintenflecke in einem Glas kristallklaren Wassers.
    Auch diesmal hatte er die Einladung, an der Feier teilzunehmen, ausgeschlagen und war still in seinem Sessel sitzen geblieben. Es war dunkel im Zimmer, bis auf den bunten Widerschein der Papierlaternen, mit denen Vendela und die Jungs und Mädchen die Bäume im Hof und die Fassade von St. Patrick’s dekoriert hatten wie ein Schiff, das für seinen Stapellauf herausgeputzt wird. In den Tagen, die noch blieben, bis die Jugendlichen auf Weisung von oben in die Straßen zurückgeschickt wurden, von denen er sie aufgelesen hatte, würde noch genug Zeit für Abschiedsworte sein.
    Wie so oft in letzter Zeit klopfte Vendela etwas später an seine Tür. Diesmal kam sie herein, ohne seine Antwort abzuwarten, und zog die Tür hinter sich zu. Carter betrachtete das ausnahmsweise fröhliche Gesicht der Oberschwester und lächelte in der Dunkelheit.
    »Wir werden alt, Vendela«, sagte der Direktor des Waisenhauses.
    »Sie werden alt, Thomas«, stellte Vendela richtig. »Ich werde reifer. Wollen sie nicht zu der Feier runterkommen? Die Kinder würden Sie gerne sehen. Ich habe ihnen gesagt, dass Sie nicht unbedingt ein Partylöwe sind … Aber nachdem sie all die Jahre nicht auf mich gehört haben, werden sie wohl heute nicht damit anfangen.«
    Carter knipste die Schreibtischlampe an und lud Vendela ein, Platz zu nehmen.
    »Wie lange arbeiten wir jetzt zusammen, Vendela?«, fragte er.
    »Zweiundzwanzig Jahre, Mr Carter«, erklärte sie. »Länger als ich es mit meinem verstorbenen Mann ausgehalten habe, Gott hab ihn selig.«
    Carter lachte.
    »Wie haben Sie das so lange ertragen?«, wollte er wissen. »Nur keine Hemmungen. Heute ist ein Festtag, da bin ich nachsichtig.«
    Vendela zuckte mit den Schultern und spielte mit einer roten Luftschlange, die sich in ihrem Haar verfangen hatte.
    »Die Bezahlung ist nicht schlecht, und ich mag die Kinder. Sie kommen nicht runter, stimmt’s?«
    Carter schüttelte langsam den Kopf.
    »Ich will den Kindern nicht das Fest verderben«, erklärte er. »Außerdem könnte ich Bens verdrehte Scherze keine Minute ertragen.«
    »Ben ist sehr still heute Abend«, sagte Vendela. »Wahrscheinlich ist er traurig. Die Jungs haben Ian schon seine Fahrkarte gegeben.«
    Carters Gesicht begann zu strahlen. Die Mitglieder der Chowbar Society (deren heimliche Existenz ihm wider Erwarten längst bekannt war) hatten über Monate hinweg Geld gesammelt, um eine Schiffspassage nach Southampton zu bezahlen, die sie ihrem Freund Ian zum Abschied schenken wollten. Ian äußerte schon seit Jahren den Wunsch, Arzt zu werden, und Carter hatte auf Anregung von Isobel und Ben mehrere englische Schulen angeschrieben, um den Jungen zu empfehlen und sich nach Möglichkeiten für ein Stipendium zu erkundigen. Die Bewilligung des Stipendiums war vor einem Jahr gekommen, aber die Reisekosten nach London überstiegen alle Befürchtungen.
    Roshan kam auf die Idee, die Niederlassung einer Schifffahrtsgesellschaft auszurauben, die zwei Blocks vom Waisenhaus entfernt war. Siraj schlug vor, eine Tombola zu veranstalten. Carter knappste etwas von seinem wenigen privaten Geld ab, ebenso Vendela. Es reichte nicht.
    Also beschloss Ben, ein Drama in drei Akten mit dem Titel
Die Gespenster von Kalkutta
zu schreiben (eine unglaubliche Räuberpistole, in der sogar die Bühnenarbeiter starben), das mit Isobel in der Hauptrolle der Lady Windmare, dem Rest der Gruppe in Nebenrollen und einem passenden Bühnenbild von Ben selbst in verschiedenen Schulen der Stadt aufgeführt wurde und beachtlichen Erfolg beim Publikum,

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