Mitternachtspalast
begeistern und die Diven der aufstrebenden Filmindustrie in Hollywood und Bombay arbeitslos zu machen. Sie sammelte Zeitungsausschnitte und Theaterprogramme, schrieb eigene Theaterstücke (»Aktive Monologe« sagte sie dazu) und führte sie uns mit beachtlichem Erfolg vor. Ihre umwerfenden Darstellungen einer Femme fatale am Rand des Nervenzusammenbruchs waren legendär. Neben ihrem extravaganten und melodramatischen Auftreten besaß Isobel, einmal abgesehen von Ben, den schärfsten Verstand der Gruppe.
Die flinkesten Beine allerdings hatte Roshan. Niemand lief so schnell wie er, der in den Straßen Kalkuttas aufgewachsen war, unter der Obhut von Dieben, Bettlern und allerlei anderen Gewächsen der rasch wuchernden Armutsviertel, die sich im Süden der Stadt ausbreiteten. Mit acht Jahren nahm Thomas Carter ihn in St. Patrick’s auf, und nachdem er mehrmals ausgebüchst und wieder zurückgekehrt war, beschloss Roshan, bei uns zu bleiben. Zu seinen Talenten zählte übrigens auch das Knacken von Schlössern. Es gab kein Schloss und keinen Riegel auf Erden, die seinen Künsten widerstanden hätten.
Ich habe schon von Siraj gesprochen, unserem Spezialisten für Spukhäuser. Siraj besaß neben seinem Asthma, seinem schmächtigen Körperbau und seiner anfälligen Gesundheit ein enzyklopädisches Gedächtnis, insbesondere was die Schauergeschichten der Stadt betraf (und davon gab es Hunderte). Bei den phantastischen Erzählungen, mit denen wir uns die nächtlichen Zusammenkünfte versüßten, war Siraj der Dokumentar und Ben der Fabulierer. Vom reitenden Toten von Hastings House bis zum Geist des Revolutionsführers von 1857 oder dem haarsträubenden Vorfall mit dem sogenannten schwarzen Loch von Kalkutta (bei dem über hundert Menschen erstickten, als man sie im früheren Fort William zusammenpferchte) – es gab keine makabre Episode in der Geschichte der Stadt, die Siraj nicht überprüfte, analysierte und archivierte. Unnötig zu sagen, dass die anderen ihren Spaß und ihre Freude an seinem Hobby hatten. Zu seinem eigenen Leidwesen hegte Siraj eine nahezu krankhafte Bewunderung für Isobel. Es verging kein halbes Jahr, ohne dass einer seiner Heiratsanträge (die unweigerlich abgelehnt wurden) zu romantischen Verstimmungen in der Gruppe führte und das Asthma des verschmähten Liebhabers verschlimmerte.
Isobels Zuneigung galt allein Michael, einem großen, schlanken, schweigsamen Jungen, der oft ohne ersichtlichen Grund in Schwermut verfiel und das zweifelhafte Privileg hatte, seine Eltern gekannt zu haben und sich an sie zu erinnern. Sie waren bei einer Überschwemmung im Gangesdelta umgekommen, als eine überfüllte Fähre kenterte. Michael sprach wenig und war ein guter Zuhörer. Was in seinem Kopf vorging, konnte man nur herausfinden, wenn man die Zeichnungen betrachtete, von denen er jeden Tag Dutzende anfertigte. Ben sagte immer, wenn es noch mehr solcher Michaels auf der Welt gäbe, würde er sein Vermögen (das er erst noch verdienen musste) in Aktien von Papierfabriken investieren.
Michaels bester Freund war Seth, ein kräftiger Bengalenjunge mit ernstem Gesicht, der vielleicht sechsmal im Jahr lächelte, wenn es hoch kam. Seth saugte voller Wissbegier alles auf, was ihm vor die Nase kam, er verschlang Mr Carters Klassiker und begeisterte sich für Astronomie. Wenn er nicht mit uns zusammen war, verwendete er seine ganze Zeit auf den Bau eines merkwürdigen Teleskops, von dem Ben sagte, damit könne man nicht mal seine eigenen Zehenspitzen betrachten. Seth hatte überhaupt keinen Sinn für Bens bisweilen bissigen Humor.
Bleibt nur noch Ben. Ich habe ihn mir für den Schluss aufgehoben, aber es fällt mir immer noch schwer, über ihn zu sprechen. Ben war jeden Tag anders. Seine Laune wechselte alle halbe Stunde, manchmal brütete er mit traurigem Gesicht schweigend vor sich hin, um dann in wilden Tatendrang zu verfallen, der uns alle auf eine harte Probe stellte. An einem Tag wollte er Schriftsteller werden, am nächsten Erfinder und Mathematiker, dann wieder Seemann oder Taucher und die restliche Zeit das alles zusammen und noch vieles andere mehr. Ben erfand mathematische Gesetze, an die er sich dann selbst nicht mehr erinnerte, und schrieb Abenteuergeschichten, die so hanebüchen waren, dass er sie eine Woche später vernichtete, weil er sich schämte, seinen Namen darunter zu sehen. Er bombardierte uns unablässig mit verrückten Einfällen und verzwickten Wortspielen, die er dann nicht mehr
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