Mitternachtspalast
öffnete er die ins Schloss gefallene Tür vorsichtig und schlich durch den dunklen Küchentrakt und den Flur im Erdgeschoss bis zur Treppe. Das Waisenhaus lag nach wie vor absolut still da, und Ben begriff, dass nur er das Kreischen des Zugs gehört hatte.
Er ging zurück in den Schlafsaal. Seine Zimmergenossen schliefen, und am Fenster war keine Spur von zersprungenem Glas zu erkennen. Er tastete sich durch den Raum und legte sich keuchend in sein Bett. Dort nahm er erneut die Uhr vom Nachttisch und schaute darauf. Er hätte schwören können, dass er fast zwanzig Minuten weg gewesen war, doch die Uhr zeigte dieselbe Zeit wie in dem Moment, als er aufgewacht war. Er hielt sie ans Ohr und hörte das gleichmäßige Ticken des Uhrwerks. Ben legte die Uhr wieder an ihren Platz und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ihm kamen Zweifel an dem, was er gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte. Vielleicht hatte er dieses Zimmer gar nicht verlassen und das Ganze nur geträumt. Das tiefe Atmen ringsum und die unversehrte Fensterscheibe schienen diese Vermutung zu bestätigen. Vielleicht wurde er auch langsam ein Opfer seiner eigenen Phantasie. Verwirrt schloss er die Augen und versuchte vergeblich, einzuschlafen. Wenn er sich schlafend stellte, so hoffte er, würde sich sein Körper vielleicht täuschen lassen.
Als die Sonne über der
Grauen Stadt
aufging, dem muslimischen Stadtviertel im Osten von Kalkutta, sprang Ben aus dem Bett und lief in den Hinterhof, um die Hauswand bei Tageslicht in Augenschein zu nehmen. Es gab keine Spuren des Zuges. Ben war kurz davor, zu glauben, dass alles ein Traum gewesen war, ein ungewöhnlich intensiver Traum, aber doch ein Traum, als er aus dem Augenwinkel einen kleinen schwarzen Fleck auf der Mauer bemerkte. Er ging näher und erkannte die Umrisse seiner Hand, die sich klar und deutlich auf der Backsteinwand abzeichnete. Er seufzte und ging dann rasch in den Schlafsaal zurück, um Ian zu wecken, der, endlich einmal von seiner hartnäckigen Schlaflosigkeit befreit, zum ersten Mal seit Wochen in Morpheus Armen versunken war.
Bei Tageslicht verblasste der Zauber des Mitternachtspalasts, und es trat gnadenlos zutage, dass es sich um eine alte Bruchbude handelte, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Doch Bens Bericht war nicht dazu angetan, die Mitglieder der Chowbar Society auf dem Boden der Tatsachen landen zu lassen, wie es sonst beim Anblick ihres Lieblingsplatzes ohne den geheimnisvollen Zauber der Nächte Kalkuttas hätte geschehen können. Alle hatten ihm respektvoll schweigend zugehört und dabei Gesichter gemacht, die von Staunen bis Ungläubigkeit reichten.
»Und er ist in der Wand verschwunden, als ob er sich in Luft aufgelöst hätte?«, fragte Seth.
Ben nickte.
»Das ist die merkwürdigste Geschichte, die du je erzählt hast, Ben«, stellte Isobel fest.
»Es ist keine Geschichte. Ich habe es gesehen«, entgegnete er.
»Daran zweifelt ja niemand, Ben«, sagte Ian in versöhnlichem Ton. »Aber wir haben alle geschlafen und nichts gehört. Nicht mal ich.«
»Das ist in der Tat unglaublich«, bemerkte Roshan. »Vielleicht hat Bankim was in die Limonade getan.«
»Also will mich keiner ernst nehmen?«, fragte Ben. »Ihr habt doch den Handabdruck gesehen.«
Niemand antwortete. Bens Blick fiel auf den schmächtigen, asthmatischen Freund, der am ehesten für Gespenstergeschichten empfänglich war.
»Siraj?«, fragte er.
Der Junge blickte auf und sah die anderen an, um die Lage zu sondieren.
»Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand so etwas in Kalkutta sieht«, erklärte er. »Da ist zum Beispiel die Geschichte von Hastings House.«
»Ich weiß nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat«, warf Isobel ein.
Der Fall von Hastings House, der ehemaligen Residenz des Provinzgouverneurs im Süden Kalkuttas, war eine von Sirajs Lieblingsgeschichten und die vielleicht sinnbildlichste Gespenstergeschichte von den vielen in den Annalen der Stadt, so bestürzend und grausam wie kaum eine andere. Den örtlichen Sagen zufolge fuhr der Geist von Warren Hastings, dem ersten Gouverneur von Bengalen, in Vollmondnächten in einer Geisterkutsche vor seiner früheren Villa in Alipore vor, um wie von Sinnen nach einigen Dokumenten zu suchen, die während der Wirren seiner Herrschaft in der Stadt verlorengegangen waren.
»Die Leute in der Stadt sehen ihn seit Jahrzehnten«, wehrte sich Siraj. »Das ist so sicher, wie der Monsun die Straßen überschwemmt.«
Die Mitglieder der
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