Mitternachtspalast
Chowbar Society begannen eine hitzige Diskussion darüber, was Ben gesehen hatte, an der sich nur der Betroffene selbst nicht beteiligte. Als irgendwann alle vernünftigen Argumente ausgetauscht schienen, bemerkten die Streithähne die weiß gekleidete Gestalt, die sie von der Schwelle des dachlosen Raumes aus beobachtete. Einer nach dem anderen verstummte.
»Ich wollte euch nicht unterbrechen«, sagte Sheere schüchtern.
»Die Unterbrechung kommt sehr gelegen«, erklärte Ben. »Wir haben zur Abwechslung mal diskutiert.«
»Ich habe das Ende mit angehört«, gab Sheere zu. »Du hast heute Nacht etwas gesehen, Ben?«
»Ich bin mir nicht mehr sicher«, sagte der Junge. »Und du? Hast du’s geschafft, deiner Großmutter zu entwischen? Gestern Abend haben wir dich wohl in die Zwickmühle gebracht.«
Sheere lächelte und schüttelte den Kopf.
»Meine Großmutter ist eine gutmütige Frau, aber manchmal geht die Phantasie mit ihr durch und sie glaubt, dass an jeder Ecke Gefahren auf mich lauern«, erklärte sie. »Sie weiß nicht, dass ich hier bin. Deshalb kann ich auch nicht lange bleiben.«
»Warum denn nicht? Wir hatten überlegt, zu den Molen zu gehen. Du könntest mitkommen«, sagte Ben zur Überraschung der anderen, die zum ersten Mal von diesen Plänen hörten.
»Ich kann nicht mitkommen, Ben. Ich bin hier, um mich zu verabschieden.«
»Was?«, riefen alle wie aus einem Munde.
»Wir fahren morgen nach Bombay«, sagte Sheere. »Meine Großmutter meint, dass es in der Stadt nicht sicher ist und wir weitermüssen. Sie hat mir verboten, euch noch einmal zu treffen, aber ich wollte nicht weggehen, ohne mich zu verabschieden. Ihr seid die einzigen Freunde, die ich in zehn Jahren hatte, auch wenn es nur für einen Abend war.«
Ben sah sie fassungslos an.
»Ihr geht nach Bombay? Wozu? Will deine Großmutter Filmstar werden? Das ist absurd!«
»Ich fürchte, das ist es nicht«, sagte Sheere traurig. »Ich bin nur noch ein paar Stunden in Kalkutta. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich sie mit euch verbringe.«
»Wir würden uns freuen, wenn du bleibst, Sheere«, sagte Ian im Namen aller.
»Moment mal!«, tobte Ben. »Was soll der ganze Abschiedsquatsch? Nur noch ein paar Stunden in Kalkutta? Kommt gar nicht in Frage, junge Dame. Du kannst hundert Jahre in dieser Stadt verbringen und hast nicht mal die Hälfte begriffen. Du kannst nicht einfach so gehen. Schon gar nicht jetzt, wo du ein vollwertiges Mitglied der Chowbar Society bist.«
»Da musst du mit meiner Großmutter sprechen.«
»Genau das gedenke ich zu tun.«
»Großartige Idee«, bemerkte Roshan. »Gestern Abend war sie ganz begeistert von dir.«
»Ihr habt kein Vertrauen«, murrte Ben. »Was ist mit den Statuten der Gesellschaft? Wir müssen Sheere helfen, das Haus ihres Vaters zu finden. Niemand wird diese Stadt verlassen, bevor wir dieses Haus gefunden haben und seinen Geheimnissen auf den Grund gegangen sind. Schluss, aus, Ende.«
»Ich schließe mich an«, sagte Siraj. »Aber wie willst du das anstellen? Sheeres Großmutter drohen?«
»Manchmal sind Worte mächtiger als Schwerter«, erklärte Ben. »Übrigens, von wem ist das?«
»Voltaire vielleicht?«, stichelte Isobel.
Ben überhörte die Ironie.
»Was können das für mächtige Worte sein?«, fragte Ian.
»Meine jedenfalls nicht«, stellte Ben klar. »Mr Carter muss mit deiner Großmutter sprechen.«
Sheere senkte den Blick und schüttelte langsam den Kopf.
»Es wird nicht funktionieren, Ben«, sagte sie hoffnungslos. »Da kennst du Aryami Bosé schlecht. Niemand ist starrköpfiger als sie. Das liegt ihr im Blut.«
Ben grinste breit, und seine Augen blitzten in der Mittagssonne.
»Ich bin noch sturer. Warte, bis du mich in Aktion siehst, dann änderst du deine Meinung«, murmelte er.
»Ben, du wirst uns wieder in Teufels Küche bringen«, stöhnte Seth.
Ben zog überheblich eine Augenbraue hoch und sah die Anwesenden einen nach dem anderen an, um jeden Anflug von Widerstand zu brechen, der sich in ihren Köpfen regen mochte.
»Wer noch etwas zu sagen hat, der möge nun sprechen oder für immer schweigen«, verkündete er feierlich.
Es war kein Protest zu hören.
»Gut. Einstimmig angenommen. Los geht’s.«
Thomas Carter steckte den Schlüssel ins Schloss seines Büros und drehte zweimal um. Der Mechanismus quietschte, und Carter öffnete die Tür. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. Eine Stunde lang wollte er niemanden sehen oder hören. Er knöpfte
Weitere Kostenlose Bücher