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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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die Weste auf und ging zu seinem Sessel. Erst jetzt bemerkte er die reglose Gestalt, die in dem Sessel gegenüber saß, und begriff, dass er nicht allein war. Der Schlüssel glitt ihm aus den Händen, fiel aber nicht zu Boden. Eine flinke, schwarz behandschuhte Hand fing ihn im Fallen auf. Aus dem Ohrensessel tauchte ein scharfgeschnittenes Gesicht auf und verzog sich zu einem Raubtiergrinsen.
    »Wer sind Sie, und wie sind Sie hier reingekommen?«, wollte Carter wissen. Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte.
    Der Eindringling stand auf, und Carter spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich, als er den Mann erkannte, der ihn vor sechzehn Jahren in diesem Büro aufgesucht hatte. Sein Gesicht war keinen Tag gealtert, und in seinen Augen glühte immer noch der brennende Hass, an den sich der Direktor erinnerte. Jawahal. Der Besucher nahm den Schlüssel, ging zur Tür und schloss ab. Carter schluckte. Aryamis Warnungen vom Abend zuvor schossen ihm in rasender Geschwindigkeit durch den Kopf. Jawahal hielt den Schlüssel zwischen seinen Fingern, und das Metall verbog sich wie eine Haarklammer.
    »Sie scheinen sich nicht zu freuen, mich wiederzusehen, Mr Carter«, sagte Jawahal. »Erinnern Sie sich nicht mehr an die Verabredung, die wir vor sechzehn Jahren getroffen haben? Ich bin gekommen, um meinen Teil zu erfüllen.«
    »Verlassen Sie augenblicklich dieses Haus, oder ich sehe mich gezwungen, die Polizei zu verständigen«, drohte Carter.
    »Machen Sie sich keine Gedanken wegen der Polizei. Ich werde sie rufen, wenn ich gehe. Setzen Sie sich, und gewähren Sie mir das Vergnügen einer Unterhaltung.«
    Carter nahm in seinem Sessel Platz. Er bemühte sich, nicht zu zeigen, was in ihm vorging, und ein abweisendes, bestimmtes Gesicht zu machen. Jawahal lächelte ihm freundlich zu.
    »Ich nehme an, Sie wissen, weshalb ich hier bin«, sagte er.
    »Ich weiß nicht, was Sie suchen, aber hier werden Sie es nicht finden«, entgegnete Carter.
    »Vielleicht ja, vielleicht nein«, antwortete Jawahal leichthin. »Ich bin auf der Suche nach einem Jungen, der eigentlich kein Junge mehr ist. Mittlerweile ist er ein Mann. Sie wissen, welchen Jungen ich meine. Es würde mir leidtun, wenn ich mich gezwungen sähe, Ihnen weh zu tun.«
    »Wollen Sie mir drohen?«
    Jawahal lächelte.
    »Ja«, antwortete er kalt. »Und wenn ich Ihnen weh tue, dann richtig.«
    Carter dachte zum ersten Mal ernsthaft über die Möglichkeit nach, laut um Hilfe zu rufen.
    »Wenn Sie schon schreien wollen«, sagte Jawahal, »dann erlauben Sie mir, Ihnen einen Anlass dafür zu geben.«
    Mit diesen Worten hielt Jawahal die rechte Hand vor Carters Gesicht und streifte langsam den Handschuh ab, der sie bedeckte.
     
    Sheere und die übrigen Mitglieder der Chowbar Society waren gerade im Hof von St. Patrick’s angelangt, als die Fensterscheiben von Thomas Carters Büro im ersten Stock mit einem furchtbaren Knall zerbarsten und es Glasscherben, Holzsplitter und Backsteinbrocken in den Garten regnete. Die Jugendlichen blieben einen Augenblick wie erstarrt stehen und rannten dann ins Haus, ohne auf den Rauch und die Flammen zu achten, die aus dem Loch schlugen, das in der Fassade klaffte.
    Zum Zeitpunkt der Explosion befand sich Bankim am anderen Ende des Korridors und sah einige Verwaltungsformulare durch, die er Carter zur Unterschrift vorlegen wollte. Die Druckwelle schleuderte ihn zu Boden. Als er aufblickte, konnte er sehen, wie die Tür zum Büro des Direktors aus den Angeln flog und in einer Rauchwolke gegen die Wand im Korridor krachte. Bankim rappelte sich auf und rannte zum Ort der Explosion. Als nur noch sechs Meter zwischen ihm und der Bürotür lagen, sah Bankim eine schwarze Gestalt aus den Flammen auftauchen. Sie breitete einen schwarzen Umhang aus und verschwand mit unglaublicher Geschwindigkeit durch den Korridor wie eine riesige Fledermaus. Sie hinterließ eine Spur aus Asche und stieß ein Geräusch aus, das Bankim an das wütende Zischen einer Kobra kurz vor dem Angriff erinnerte.
    Bankim fand Carter auf dem Fußboden des Büros. Sein Gesicht war verbrannt, und seine rauchenden Kleider schienen eine wahre Feuersbrunst überstanden zu haben. Bankim kniete neben seinem Mentor nieder und versuchte ihn aufzurichten. Die Hände des Direktors zitterten, und Bankim stellte erleichtert fest, dass er noch atmete, wenn auch nur mühsam. Bankim schrie nach Hilfe, und kurz darauf erschienen die Gesichter einiger Schüler in der Tür. Ben, Ian und

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