Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
lächelnd, aber Ians Lippen weigerten sich, es denen des Mädchens gleichzutun.
    »Tu nichts, was ich nicht auch tun würde«, bat er.
    Isobel lachte auf.
    »Ich werde etwas tun, was du dich niemals trauen würdest«, murmelte sie.
    Ian sah sie verblüfft und verständnislos an. Dann beugte sich Isobel, immer noch dieses rätselhafte Leuchten in den Augen, zu Ian und küsste ihn sanft auf den Mund. Ihre Lippen berührten sich kaum.
    »Pass gut auf dich auf, Ian«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und mach dir keine Hoffnungen.«
    Es war das erste Mal, dass Isobel ihn geküsst hatte, und als er sie durch das Gebüsch im Patio davongehen sah, überkam ihn plötzlich unerklärliche Angst, dass es auch das letzte Mal gewesen sein könnte.
     
    Nach fast einer Stunde kamen Ben und Sheere mit unbewegten Mienen und merkwürdig ruhig nach draußen. Sheere ging zu Aryami, die in dieser ganzen Zeit allein unter dem Vordach des Hauses gesessen hatte, ohne auf Ians Gesprächsversuche einzugehen, und setzte sich neben sie. Ben hielt direkt auf Ian zu.
    »Wo sind denn alle?«, fragte er.
    »Wir dachten, es wäre hilfreich, wenn wir versuchen, etwas über diesen Jawahal herauszufinden«, antwortete Ian.
    »Und du bist als Kindermädchen hiergeblieben«, scherzte Ben, doch die aufgesetzte Fröhlichkeit in seiner Stimme konnte keinen von beiden täuschen.
    »So in der Art. Geht es dir gut?«, wollte Ian wissen und deutete mit dem Kopf zu Sheere herüber.
    Sein Freund nickte.
    »Ein bisschen durcheinander«, sagte er schließlich. »Ich hasse Überraschungen.«
    »Isobel findet es keine gute Idee, wenn ihr beiden durch die Gegend lauft. Und ich denke, sie hat recht.«
    »Isobel hat immer recht, außer wenn ich mit ihr streite«, sagte Ben. »Aber ich befürchte, dass wir hier auch nicht sicher sind. Es ist immer noch das Anwesen der Familie, auch wenn es fünfzehn Jahre leergestanden hat. Und wie man sieht, ist St. Patrick’s auch nicht sicher.«
    »Ich denke, das Beste wäre, zum Mitternachtspalast zu gehen und dort auf die anderen zu warten«, schlug Ian vor.
    »Ist das Isobels Plan?«, grinste Ben.
    »Dreimal darfst du raten.«
    »Und wo ist sie hin?«
    »Sie wollte es mir nicht sagen.«
    »Eine ihrer Eingebungen?«, mutmaßte Ben beunruhigt.
    Ian nickte, und Ben seufzte.
    »Gott steh uns bei«, sagte er dann und klopfte seinem Freund auf den Rücken. »Ich spreche mit den Damen.«
    Ian sah erneut zu Sheere und Aryami Bosé herüber. Die alte Frau schien hitzig mit ihrer Enkelin zu diskutieren. Ben und Ian tauschten einen Blick.
    »Ich nehme an, sie hält an ihrem Plan fest, morgen nach Bombay abzureisen«, vermutete Ben.
    »Fährst du mit?«
    »Ich habe nicht vor, diese Stadt jemals zu verlassen. Schon gar nicht jetzt.«
    Die beiden Freunde sahen der Diskussion zwischen Großmutter und Enkelin noch ein paar Minuten länger zu, dann ging Ben zu ihnen.
    »Warte hier auf mich«, flüsterte er leise.
     
    Aryami Bosé ging wieder ins Haus und ließ Ben und Sheere allein vor der Tür zurück. Sheeres Gesicht war gerötet vor Zorn. Ben wartete darauf, dass sie von sich aus anfing zu erzählen. Als sie es schließlich tat, bebte ihre Stimme vor Wut, und sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
    »Sie sagt, dass wir morgen abreisen und sie nicht mehr über die Sache sprechen will«, erklärte sie. »Sie sagt auch, dass du mitkommen solltest, aber sie kann dich nicht dazu zwingen.«
    »Wahrscheinlich denkt sie, dass es das Beste für dich ist«, meinte Ben.
    »Denkst du das nicht?«
    »Ich müsste lügen, wenn ich ja sagen würde«, gab Ben zu.
    »Ich war mein ganzes Leben auf der Flucht, von einem Ort zum anderen, in Zügen, per Schiff und auf Karren, ohne ein Zuhause, Freunde oder einen Platz, der mir gehört hätte«, sagte Sheere. »Ich bin es leid, Ben. Ich kann nicht mein Leben lang vor jemandem davonlaufen, den ich nicht einmal kenne.«
    Die Geschwister sahen sich schweigend an.
    »Sie ist eine alte Frau, Ben. Sie hat Angst, weil ihr Leben zu Ende geht und sie uns nicht länger beschützen kann«, setzte das Mädchen hinzu. »Sie macht es von Herzen, aber Weglaufen hat keinen Sinn mehr. Was würde es bringen, morgen diesen Zug nach Bombay zu nehmen? Um an irgendeinem Bahnhof unter falschem Namen auszusteigen? Sich in irgendeinem Dorf eine Unterkunft zu erbetteln und gleichzeitig zu wissen, dass wir am nächsten Morgen wieder fliehen müssten?
    »Hast du Aryami das gesagt?«, fragte Ben.
    »Sie will mich nicht anhören. Aber diesmal werde

Weitere Kostenlose Bücher