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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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auch immer passiert, Großmutter«, sagte sie, »ich liebe dich.«
    Aryami nickte stumm und hörte, wie Sheere wieder in Richtung Hof davonging. Tränen standen ihr in den Augen. Draußen warteten Ben und Ian und empfingen Sheere mit dem optimistischsten Gesicht, das sie aufsetzen konnten.
    »Wohin gehen wir jetzt?«, fragte Sheere. Ihre Augen waren tränennass, und ihre Hände zitterten.
    »In die feinste Ecke von Kalkutta«, antwortete Ben. »Den Mitternachtspalast.«
     
    Das letzte Tageslicht begann zu schwinden, als Isobel den gespenstischen, verwinkelten Bau von Jheeter’s Gate aus dem Nebel am Fluss auftauchen sah wie das Trugbild einer unheimlichen Kathedrale, die ein Raub der Flammen geworden war. Das Mädchen hielt den Atem an und blieb stehen, um den schaurigen Anblick auf sich wirken zu lassen, ein Gewirr aus Hunderten von Stahlträgern, Bögen und aufgesetzten Kuppeln, ein unergründliches Labyrinth aus Eisen und bei dem Brand zersprungenem Glas. Eine baufällige, nicht mehr genutzte Brücke führte über den Fluss zur Bahnhofshalle, die am anderen Ufer ihren schwarzen Rachen aufriss wie ein reglos lauernder Drache, dessen endlose Reihen spitzer, scharfer Zähne sich im Dunkel des Gebäudes verloren.
    Isobel ging zu der Brücke, die zum Jheeter’s Gate führte, und stieg über die alten Gleise, die wie eine Sackgasse auf dieses Mausoleum der Unterwelt zuliefen. Die Bretter, mit denen man den ehemaligen Bahnhof vernagelt hatte, waren mittlerweile morsch und verrottet, und Unkraut wucherte zwischen ihnen hervor. Das rostige Metall der Brücke ächzte unter ihren Füßen, und bald darauf bemerkte Isobel die Schilder, die den Zugang verboten und vor Einsturzgefahr warnten. Es war nie wieder ein Zug über diese Brücke gefahren, und ihrem heruntergekommenen Aussehen nach zu schließen, hatte sie niemand repariert oder auch nur betreten.
    Als das Ostufer Kalkuttas immer weiter hinter ihr zurückblieb und das phantastische Rätselgebilde aus Stahl und Schatten vor ihr aus dem Blutrot der Abenddämmerung aufragte, begann sich Isobel zu fragen, ob ihr Plan, hierherzukommen, womöglich doch nicht so klug gewesen war, wie sie zunächst gedacht hatte. Die Rolle der furchtlosen, zu allem entschlossenen Abenteurerin zu spielen, war das eine, diese beängstigende Szenerie zu betreten, ohne eine einzige Seite des dritten Akts zu kennen, etwas ganz anderes.
    Ein modriger, von Asche und Ruß durchsetzter Lufthauch, der aus den Tunnels im Inneren des Bahnhofs kam, schlug ihr entgegen. Es war ein ätzender, durchdringender Geruch, der Isobel an eine alte Fabrik erinnerte, die unter giftigen Abgasen und Schichten von Schmutz und Rost verschwand. Isobel konzentrierte sich auf die fernen Lichter der Barkassen, die auf dem Hooghly River kreuzten, und versuchte, sich die Gesellschaft ihrer unbekannten Passagiere vorzustellen, während sie das letzte Stück über die Brücke zum Eingang des Bahnhofs ging. Als sie am anderen Ende angelangt war, blieb sie zwischen den Gleisen stehen, die in der schwarzen Tiefe verschwanden, und betrachtete die gewaltige Stahlfassade. Darauf stand, von den Flammen geschwärzt, in schmiedeeisernen Buchstaben der Name des Bahnhofs: JHEETER’S GATE . Der Anblick erinnerte an den Eingang zu einem gewaltigen Grabmonument.
    Isobel atmete tief durch und machte sich innerlich bereit, etwas zu tun, das nicht unbedingt zu den innigen Wünschen einer Sechzehnjährigen zählte: diesen Ort zu betreten.
     
    Seth und Michael setzten angesichts der forschenden Blicke Mr De Rozios, Chefbibliothekar des großen Lesesaals im Indischen Museum, ihr unschuldigstes Lächeln auf und hielten für einige Sekunden seiner unbarmherzigen Musterung stand.
    »Das ist die absurdeste Bitte, die ich je in meinem Leben gehört habe«, befand De Rozio schließlich. »Zumindest, seit du das letzte Mal hier warst, Seth.«
    »Sehen Sie, Mr De Rozio«, begann Seth, »wir wissen, dass sie nur vormittags geöffnet haben und dass die Bitte, die mein Freund und ich an Sie haben, ein wenig absonderlich erscheinen mag …«
    »Was dich angeht, ist nichts absonderlich genug, junger Freund«, fiel De Rozio ihm ins Wort.
    Seth unterdrückte ein Grinsen. Bei Mr De Rozio war beißende Ironie ein untrügliches Zeichen für Interesse. Kein Mensch kannte seinen Vornamen, mit Ausnahme vielleicht seiner Mutter und seiner Frau, falls es irgendwo in Indien eine Frau gab, die es wagte, sich mit einem solchen Exemplar von Mann einzulassen, ein

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