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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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ich nicht mehr fliehen. Das hier ist mein Haus, das hier ist die Stadt meines Vaters. Hier will ich bleiben. Und wenn dieser Mann auftaucht, werde ich ihm die Stirn bieten. Wenn er mich umbringen muss, soll er es tun. Aber wenn ich leben soll, dann nicht als Vogelfreie, die dankbar für jeden Tag ist, an dem sie die Sonne aufgehen sieht. Wirst du mir helfen, Ben?«
    »Sicher«, antwortete der Junge.
    Sheere umarmte ihn und wischte sich mit einem Zipfel ihres weißen Kleids die Tränen ab.
    »Weißt du was, Ben? Als wir gestern mit deinen Freunden in diesem alten, verlassenen Haus waren, eurem Mitternachtspalast, und ich euch meine Geschichte erzählte, dachte ich, dass ich nie die Möglichkeit hatte, ein Kind wie alle anderen zu sein. Ich wuchs mit alten Leuten, Angst und Lügen auf, Bettler und namenlose Reisende waren meine einzige Gesellschaft. Ich weiß noch, wie ich mir unsichtbare Freunde ausdachte und in Wartesälen und Karren stundenlange Gespräche mit ihnen führte. Die Erwachsenen sahen mich lächelnd an. Für sie war ein kleines Mädchen, das Selbstgespräche führte, ein niedlicher Anblick. Aber so ist es nicht, Ben. Es ist nicht schön, allein zu sein, weder als Kind noch als alter Mensch. Ich habe mich jahrelang gefragt, wie das wohl bei anderen Kindern sein mochte, ob sie die gleichen Albträume hatten wie ich, ob sie genauso unglücklich waren wie ich. Wer behauptet, die Kindheit sei die glücklichste Zeit des Lebens, ist ein Lügner oder ein Schwachkopf.«
    Ben betrachtete seine Schwester und grinste dann.
    »Oder beides«, scherzte er. »Das eine geht mit dem anderen einher.«
    Sheere errötete.
    »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich quatsche zu viel, stimmt’s?«
    »Nein, nein«, wehrte Ben ab. »Ich höre dir gerne zu. Außerdem glaube ich, dass wir mehr Gemeinsamkeiten haben, als du glaubst.«
    »Wir sind Geschwister«, sagte Sheere und lachte unsicher. »Findest du, das ist nichts? Zwillinge! Es klingt so merkwürdig!«
    »Na ja, wie heißt es so schön? Freunde kann man sich aussuchen, die Familie nicht«, scherzte Ben.
    »Dann möchte ich lieber, dass du mein Freund bleibst«, sagte Sheere.
    Ian gesellte sich zu ihnen und stellte erleichtert fest, dass die Geschwister gute Laune zu haben schienen und es sich sogar erlaubten, ein paar Witze zu reißen, was in Anbetracht der Umstände beachtlich war.
    »Du musst wissen, was du tust. Ian, diese junge Dame möchte meine Freundin sein.«
    »Ich würde dir abraten«, ging Ian auf den Scherz ein. »Ich bin seit Jahren mit ihm befreundet, und das hab ich jetzt davon. Habt ihr eine Entscheidung getroffen?«
    Ben nickte.
    »Ist es das, was ich denke?«, fragte Ian.
    Ben nickte erneut, und Sheere schloss sich ihm an.
    »Was habt ihr denn beschlossen?«, erkundigte sich Aryami Bosés verbitterte Stimme hinter ihnen.
    Die drei fuhren herum und sahen die alte Frau reglos im Schatten der Tür stehen. Es herrschte angespanntes Schweigen.
    »Wir werden morgen nicht diesen Zug nehmen, Großmutter«, antwortete Sheere ernst. »Weder Ben noch ich.«
    Die Augen der alten Frau wanderten wutsprühend von einem zum anderen.
    »Haben die schönen Worte dieser ahnungslosen Rotzlöffel dich in Minutenschnelle vergessen lassen, was ich dir über Jahre beigebracht habe?«, schimpfte sie.
    »Nein, Großmutter. Es ist meine eigene Entscheidung. Und nichts auf der Welt wird mich umstimmen.«
    »Du wirst tun, was ich dir sage«, sagte Aryami schneidend, doch jedes ihrer Worte war in den Geruch der Niederlage gehüllt.
    »Madam …«, setzte Ian höflich an.
    »Sei still, Junge« herrschte Aryami ihn kühl an.
    Ian unterdrückte den Drang, etwas zu entgegnen, und blickte zu Boden.
    »Großmutter, ich werde nicht in diesen Zug steigen«, sagte Sheere. »Und du weißt das.«
    Aryami sah ihre Enkelin wortlos aus dem Dunkel an.
    »Ich warte morgen früh am Bahnhof von Howrah auf euch«, sagte sie schließlich.
    Sheere seufzte, und Ben sah, wie ihr Gesicht wieder rot anlief. Er fasste sie am Arm und gab ihr zu verstehen, dass sie die Diskussion nicht weiter fortsetzen solle. Aryami wendete sich ab, und ihre Schritte verhallten langsam im Haus.
    »Ich kann sie nicht so hier zurücklassen«, murmelte Sheere.
    Ben nickte und ließ den Arm seiner Schwester los. Sheere folgte Aryami in den Wohnraum, wo die alte Frau im Schein der Kerzen saß. Sie drehte sich nicht um und blieb reglos sitzen, ohne ihre Enkelin zu beachten. Sheere trat zu ihr und schlang sanft ihre Arme um sie.
    »Was

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