Mitternachtspalast
Musterbeispiel dafür, wie bunt die menschliche Spezies sein konnte. Hinter der Fassade des bibliophilen Zerberus verbarg De Rozio eine schreckliche Achillesferse: eine Neugier und Neigung zum akademischen Klatsch, die die Marktweiber auf dem Basar zu reinen Statisten degradierte.
Seth und Michael sahen sich von der Seite an und beschlossen, die Katze aus dem Sack zu lassen.
»Mr De Rozio«, begann Seth, »ich sollte das nicht sagen, aber ich sehe mich gezwungen, auf Ihre allseits bekannte Diskretion zu vertrauen: Es sind einige Verbrechen geschehen, und wir haben die große Befürchtung, dass sich noch weitere ereignen könnten, wenn wir dem keinen Riegel vorschieben.«
Die kleinen, durchdringenden Augen des Bibliothekars schienen sich für einige Sekunden zu weiten.
»Seid ihr sicher, dass Mr Thomas Carter über die Sache Bescheid weiß?«, fragte er streng.
»Er schickt uns«, behauptete Seth.
De Rozio musterte sie erneut, um in ihren Gesichtern nach Hinweisen zu forschen, die irgendwelche dunklen Machenschaften verrieten.
»Und dein Freund?«, fragte De Rozio schließlich und deutete auf Michael. »Warum sagt er nichts?«
»Er ist sehr zurückhaltend, Mr De Rozio«, erklärte Seth.
Michael nickte schüchtern, wie um diesen Punkt zu bestätigen. De Rozio räusperte sich zweifelnd.
»Um Verbrechen geht es, sagst du?«, bemerkte er betont gleichgültig.
»Morde, Mr De Rozio«, bestätigte Seth. »Mehrere Morde.«
De Rozio sah auf seine Uhr, und nachdem er einige Sekunden gezögert und zwischen den Jungen und dem Zifferblatt hin und her geschaut hatte, zuckte er mit den Achseln.
»Also gut«, gab er nach. »Aber das ist das letzte Mal. Wie heißt dieser Mann, über den ihr etwas herausfinden wollt?«
»Lahawaj Chandra Chatterghee«, antwortete Seth rasch.
»Der Ingenieur?«, fragte De Rozio. »Ist er nicht bei dem Brand von Jheeter’s Gate ums Leben gekommen?«
»Ja, Mr De Rozio«, erklärte Seth. »Aber es war jemand bei ihm, der nicht umgekommen ist. Jemand sehr Gefährliches. Jemand, der das Feuer gelegt hat. Jemand, der immer noch hier herumläuft, um weitere Verbrechen zu begehen …«
De Rozio lächelte argwöhnisch.
»Klingt interessant …«, murmelte er.
Plötzlich befiel den Bibliothekar ein Verdacht. De Rozio beugte seine beachtlichen Körpermassen zu den beiden Jungen und deutete mit entschiedener Geste auf sie.
»Das hat sich doch nicht etwa dieser Freund von euch ausgedacht, oder?«, erkundigte er sich. »Wie heißt er noch gleich?«
»Ben weiß nichts davon, Mr De Rozio«, beruhigte ihn Seth. »Wir haben ihn seit Monaten nicht gesehen.«
»Ist auch besser so«, urteilte De Rozio. »Folgt mir.«
Isobel betrat mit zögerlichen Schritten den Bahnhof und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die den Ort umfing. Über ihr wölbte sich in Dutzenden Metern Höhe die Hauptkuppel, die aus hohen Bögen aus Stahl und Glas bestand. Der Großteil der Glasscheiben war in den Flammen geschmolzen oder einfach in einem Regen aus glühenden Splittern zersprungen, die den gesamten Bahnhof übersäten. Abendlicht drang durch die Ritzen zwischen dem geschwärzten Metall und den Glasscherben, die die Tragödie überstanden hatten. Die Bahnsteige beschrieben unter der großen Kuppel eine sanfte Kurve, bevor sie in der Dunkelheit verschwanden. Überall lagen Überreste von verbrannten Bänken und herabgestürzte Dachträger herum.
Die große Uhr, die einmal auf dem zentralen Bahnsteig gestanden hatte wie ein Leuchtturm an der Hafenausfahrt, erinnerte nun an einen dunklen, stummen Wächter. Als Isobel unter dem Zifferblatt hindurchging, stellte sie fest, dass die Zeiger wie Gelatine zerflossen waren und für immer die Stunde des Grauens anzeigten, das den Bahnhof verschlungen hatte.
Nichts schien sich hier verändert zu haben, mit Ausnahme der Spuren, die die Jahre und der Regen hinterlassen hatten, der während der Monsunstürme durch die Lüftungsluken und Risse in der Kuppel gedrungen war.
Isobel blieb stehen, um den Bahnhof aus der Mitte der großen Halle zu betrachten. Sie hatte das Gefühl, sich in einem unendlichen, unergründlichen versunkenen Tempel zu befinden.
Ein weiterer feuchtwarmer Lufthauch wehte durch den Bahnhof, strich durch ihr Haar und wirbelte kleine Schmutzpartikel von den Bahnsteigen auf. Isobel erschauderte und sah zu den schwarzen Mäulern der Tunnels, die am anderen Ende des Bahnhofs in der Erde verschwanden. Jetzt hätte sie gerne die
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