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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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und Sheere sich in der letzten Stunde die Zeit vertrieben hatten: Er versuchte dem Mädchen mit Hilfe eines Spielbretts, das die Chowbar Society an ihrem Versammlungsort deponiert hatte, die Grundregeln des Schachs beizubringen. Figuren gab es nur bei den jährlichen Meisterschaften, die immer im Dezember stattfanden und deren Gewinnerin ausnahmslos Isobel hieß, die eine Überlegenheit an den Tag legte, die schon einem Affront gleichkam.
    »Es gibt zwei strategische Ansätze beim Schach«, erklärte Ian. »Eigentlich gibt es Tausende, aber nur zwei sind wirklich von Bedeutung. Der erste besagt, dass die zweite Reihe der Spielfiguren der Schlüssel zum Spiel ist: König, Pferd, Turm, Königin usw. Nach dieser Theorie sind die Bauern nur taktische Opfer. Die zweite Theorie hingegen behauptet, dass die Bauern beim Angriff die entscheidenden Figuren sein können und sollten und dass ein kluger Stratege sie genau dafür einsetzt, wenn er erfolgreich sein will. Bei mir funktioniert ehrlich gesagt keine der beiden Strategien, aber Isobel ist eine glühende Verfechterin der zweiten Variante.«
    Bei der Erwähnung der Freundin fragte er sich besorgt, wo sie wohl stecken mochte. Sheere bemerkte seinen abwesenden Gesichtsausdruck und riss ihn mit einer weiteren Schachfrage aus seinen Gedanken.
    »Was ist denn der Unterschied zwischen Taktik und Strategie?«, fragte sie.
    Ian dachte über Sheeres Frage nach und kam zu dem Schluss, dass er keine Antwort darauf wusste.
    »Es ist ein sprachlicher, kein tatsächlicher Unterschied«, war Bens Stimme von hoch oben zu vernehmen. »Taktik ist die Gesamtheit aller kleinen Schritte, die du machst, um an ein Ziel zu gelangen. Strategie sind die Schritte, die du machst, wenn es kein Ziel mehr zu erreichen gibt.«
    Sheere blickte nach oben und lächelte Ben zu.
    »Spielst du Schach, Ben?«, fragte sie.
    Ben gab keine Antwort.
    »Ben hasst Schach«, erklärte Ian. »Seiner Meinung nach ist es die zweitunsinnigste Art, die menschliche Intelligenz zu vergeuden.«
    »Und was ist die unsinnigste?«, fragte Sheere amüsiert.
    »Die Philosophie«, antwortete Ben aus seinem Ausguck.
    »Oh, Ben hat gesprochen!«, stellte Ian fest. »Warum kommst du nicht mal runter? Die anderen müssten bald da sein.«
    »Ich warte hier«, sagte Ben und widmete sich wieder seinem Platz in den Wolken.
    Er kletterte erst eine halbe Stunde später herunter, als Ian gerade damit beschäftigt war, den Rösselsprung zu erklären, und Roshan und Siraj im Hofeingang des Mitternachtspalasts erschienen. Kurz darauf trafen auch Seth und Michael ein, und alle versammelten sich um ein kleines Lagerfeuer, das Ian aus den letzten Resten an trockenem Holz improvisierte, das sie in einem überdachten, regengeschützten Trakt im hinteren Teil des Palasts aufbewahrten. Die Gesichter der sieben Jugendlichen leuchteten im Widerschein des Feuers, während Ben eine Flasche Wasser herumreichte, das zwar nicht frisch war, aber zumindest keine Fiebererreger übertrug.
    »Wollen wir nicht auf Isobel warten?«, fragte Siraj, sichtlich beunruhigt über das Fehlen des Objekts seiner einseitigen Liebe.
    »Vielleicht kommt sie nicht«, sagte Ian.
    Alle sahen sich überrascht an. Ian erzählte kurz von seiner Unterhaltung mit Isobel am Nachmittag, während sich die Mienen seiner Freunde verdüsterten. Als er zu Ende erzählt hatte, erinnerte er sie an Isobels Auftrag, einander von ihren jeweiligen Erkenntnissen zu berichten, ob sie nun dabei war oder nicht. Dann fragte er, wer den Anfang machen wolle.
    »Also gut«, sagte Siraj unruhig. »Ich erzähle euch, was wir herausgefunden haben, und dann gehe ich Isobel suchen. Nur sie kann mit ihrem Sturkopf auf die Idee kommen, nachts alleine durch die Gegend zu laufen, ohne jemandem zu sagen, wo sie hingeht. Wieso hast du sie gehen lassen, Ian?«
    Roshan kam Ian zu Hilfe und legte Siraj eine Hand auf die Schulter.
    »Isobel lässt nicht mit sich diskutieren«, rief er ihm in Erinnerung. »Wir sind ganz Ohr. Erzähl das mit den Hieroglyphen, und dann gehen wir beide sie suchen.«
    »Hieroglyphen?«, fragte Sheere.
    Roshan nickte.
    »Wir haben das Haus gefunden, Sheere«, erklärte Siraj. »Besser gesagt, wir wissen, wo es steht.«
    Sheeres Gesicht begann zu strahlen, und ihr Herz schlug wie wild. Die Jungen traten näher ans Feuer, und Siraj zog ein Blatt Papier hervor, auf dem in der unverwechselbaren Handschrift des schmächtigen Jungen einige Verse notiert waren.
    »Was ist das?«, fragte Seth.
    »Ein

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