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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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übrigen Mitglieder der Chowbar Society bei sich gehabt, denn die Situation behagte ihr ganz und gar nicht und glich zu sehr den Geschichten, die Ben sich so gerne bei ihren nächtlichen Treffen im Mitternachtspalast ausdachte. Isobel suchte in ihrer Tasche und zog Michaels Zeichnung hervor, auf der alle Mitglieder der Chowbar Society vor einem Teich zu sehen waren, in dem sich ihre Gesichter spiegelten. Isobel lächelte, als sie sah, wie Michael sie porträtiert hatte, und fragte sich, ob er sie tatsächlich so sah. Sie vermisste die anderen.
    Da hörte sie es zum ersten Mal. Das Geräusch kam von weither, überlagert vom Säuseln der Luftströmungen, die durch die Tunnels strichen. Es war das Geräusch ferner Stimmen. Es klang wie damals unter Wasser, als Ben ihr vor Jahren im Hooghly River das Tauchen beigebracht hatte. Doch Isobel wusste genau, dass es diesmal nicht die Stimmen von Pilgern waren, die sich aus den Tiefen der Tunnels zu nähern schienen. Es waren Kinderstimmen, Hunderte. Und sie schrien vor Entsetzen.
     
    De Rozio strich bedächtig über sein gewaltiges Dreifachkinn und nahm sich noch einmal den Stapel mit Dokumenten, Zeitungsausschnitten und nicht näher zu bestimmenden Papieren vor, die er in mehreren Etappen aus dem Verdauungstrakt der alexandrinischen Bibliothek des Indischen Museums herbeigeschleppt hatte. Seth und Michael sahen ihm ungeduldig und erwartungsvoll zu.
    »Also«, sagte der Bibliothekar. »Die Sache ist wesentlich komplizierter, als es scheint. Es gibt viele Informationen über diesen Lahawaj Chandra Chatterghee unter verschiedenen Eingängen. Die meisten Schriftstücke, die ich mir angesehen habe, scheinen nicht viel herzugeben, aber man bräuchte mindestens eine Woche, um ein wenig Ordnung in die Unterlagen über diese Person zu bringen.«
    »Was haben Sie denn herausgefunden, Mr De Rozio?«, fragte Seth.
    »Von allem ein bisschen. Mr Chandra war ein brillanter Ingenieur, seiner Zeit um Einiges voraus, ein Idealist, besessen von der Idee, diesem Land ein Erbe zu hinterlassen, das die Armen für ihr Leid entschädigte, welches er auf die Herrschaft und die Ausbeutung durch die Briten zurückführte. Nicht sehr originell, ehrlich gesagt. Kurz und gut, er hatte alle Voraussetzungen, um richtig unglücklich zu werden. Doch wie es aussieht, setzte er sich gegen seine Neider durch und überstand eine ganze Reihe von Komplotten und Versuchen, seine Karriere zu beenden. Es gelang ihm, die Regierung davon zu überzeugen, seinen großen Traum zu finanzieren: den Bau einer Eisenbahnlinie, die die wichtigsten Städte des Landes mit dem restlichen Kontinent verbinden sollte.
    Chandra glaubte, damit seien die Tage des Seehandelsmonopols, das auf die Zeiten Lord Clives und der East Indian Company zurückging, gezählt, und die Menschen in Indien würden mit der Zeit selbst die Kontrolle über die Reichtümer ihres Landes übernehmen. Eigentlich brauchte man kein Ingenieur zu sein, um zu begreifen, dass es nicht so kommen würde.«
    »Gibt es etwas über einen Mann namens Jawahal?«, fragte Seth. »Er war ein Jugendfreund des Ingenieurs. Es fanden mehrere Prozesse gegen ihn statt. Aufsehenerregende Fälle, glaube ich.«
    »Irgendwo bestimmt, mein Junge, aber es sind noch so viele Dokumente zu sortieren. Weshalb kommt ihr nicht in ein, zwei Wochen wieder? Bis dahin werde ich Gelegenheit haben, ein bisschen Ordnung in dieses Chaos zu bringen.«
    »Wir können keine zwei Wochen warten, Mr De Rozio.«
    Der Bibliothekar sah den Jungen überrascht an.
    »Eine Woche?«, schlug er vor.
    »Mr De Rozio«, sagte Michael, »es geht um Leben und Tod. Zwei Menschen sind in Lebensgefahr.«
    De Rozio sah Michaels eindringlichen Blick und nickte verwirrt. Seth ließ keine Sekunde verstreichen.
    »Wir werden Ihnen beim Suchen und Sortieren helfen, Mr De Rozio«, bot er an.
    »Ihr? Ich weiß ja nicht … Wann?«
    »Jetzt sofort«, entgegnete Michael.
    »Kennt ihr euch mit dem System der Bibliothek aus?«, fragte de Rozio.
    »Wie im Schlaf«, log Seth.
     
    Die Sonne ging als großer, blutroter Ball hinter den zersprungenen Scheiben von Jheeter’s Gate unter, und Isobel sah gebannt zu, wie Hunderte scharlachfarbener Lichtstrahlen wie Messer durch das dämmrige Licht des Bahnhofs schnitten. Das Kreischen der Stimmen wurde lauter, und bald hörte Isobel, wie es von der großen Kuppel widerhallte. Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern, und das Mädchen sah, wie einige Glasscherben vom Dach

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