Shannara VII
Kapitel 1
Der alte Mann tauchte so plötzlich auf, als wäre er aus dem Nichts gekommen. Der Grenzländer beobachtete ihn von seinem Versteck oben am Hang aus; er hockte im Schatten eines Laubbaumes und konnte von dort alles überblicken, was zur Ebene von Streleheim gehörte, auch die Wege, die zur Ebene hinführten. Im hellen Schein des Vollmonds reichte die Sicht mindestens zehn Meilen weit, und dennoch hatte er den Alten nicht kommen sehen. Es war zermürbend und irgendwie auch beschämend, und die Tatsache, daß es jedesmal wieder geschah, ließ es kein bißchen angenehmer werden. Wie machte der alte Mann das nur? Der Grenzländer hatte beinahe sein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht und sich mit Hilfe seines Verstands und einiger Erfahrung gut durchschlagen können. Er erspähte Dinge, deren Existenz andere nicht einmal ahnten. Er konnte an den Spuren im hohen Gras erkennen, wie und in welcher Richtung Tiere sich bewegt hatten. Er wußte, wie schnell und wie weit sie ihm voraus waren. Den alten Mann aber konnte er in der klarsten Nacht, auf dem übersichtlichsten Gelände nicht entdecken - nicht einmal wenn er bereits wußte, daß der Alte auf dem Weg war.
Es half auch nicht gerade, daß der alte Mann seinerseits keinerlei Schwierigkeiten hatte, ihn zu finden. Zielstrebig verließ er seinen Weg und ging auf den Grenzländer zu, langsamen und gemessenen Schrittes, den Kopf leicht gebeugt, den Blick aus dem Schatten der Kapuze heraus nach oben gerichtet. Wie alle Druiden trug er einen schwarzen Umhang mit Kapuze, was ihn noch dunkler als die Schatten erscheinen ließ, die er durchquerte. Er war weder hochgewachsen noch muskulös, aber er vermittelte den Eindruck von Härte und Entschlossenheit. Seine Augen, sofern sie sichtbar waren, wirkten meist grünlich. Manchmal jedoch schienen sie auch so weiß wie Knochen zu sein - so wie jetzt, da die Nacht die Farben verschluckte und alles in graue Schatten verwandelte. Der Blick des Alten erinnerte an den eines Tieres, das in einem Lichtstrahl gefangen ist - wild, stechend, zwingend. Der Mond beleuchtete auch das Gesicht des alten Mannes, arbeitete die tiefen Falten heraus, die es von der Stirn bis zum Kinn durchfurchten, spielte über die Kerben der uralten Haut. Die Haare des alten Mannes und sein Bart waren von einem hellen Grau und so strähnig und dünn wie verflochtene Spinnweben.
Der Grenzländer gab sich geschlagen und richtete sich langsam auf. Er war groß, schlank und breitschultrig und hatte seine langen, dunklen Haare im Nacken zusammengebunden. Seine braunen Augen blickten scharf und fest, und sein schmales Gesicht war ausgeprägt, aber auf gewisse Art sah er recht gut aus.
Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht des alten Mannes, als der jüngere aufstand. »Wie geht es dir, Kinson?« grüßte er.
Der vertraute Klang dieser Stimme ließ Kinson Ravenlocks Gereiztheit verschwinden wie Staub im Wind. »Es geht mir gut, Bremen«, antwortete er und streckte dem Alten die Hand entgegen.
Der alte Mann griff danach und drückte fest zu. Seine Haut war trocken und vom Alter faltig, aber die Muskeln darunter waren stark. »Wie lange wartest du schon?«
»Drei Wochen. Nicht so lange, wie ich angenommen hatte. Ich bin überrascht. Allerdings ist es dir auch noch jedesmal gelungen, mich zu überraschen.«
Bremen lachte. Er hatte den Grenzländer sechs Monate zuvor mit der Anweisung verlassen, ihn beim ersten Vollmond der vierten Jahreszeit nördlich von Paranor wiederzutreffen, genau dort, wo der Wald endete und die Ebene von Streleheim begann. Zeit und Ort des Treffens waren abgemacht, aber es war dennoch nie ganz sicher gewesen. Beide Männer waren sich der Unwägbarkeiten bewußt, denen der alte Mann ausgesetzt war. Bremen war nach Norden in verbotenes Land gegangen, und es war klar, daß Ereignisse den Zeitpunkt und Ort seiner Rückkehr bestimmen würden, die keiner der beiden voraussehen konnte. Kinson war es gleichgültig, daß er drei Wochen hatte warten müssen. Es hätten ebensogut auch drei Monate sein können.
Der Druide sah den Grenzländer mit durchdringenden Augen an, die jede Farbe verloren hatten und im Mondlicht weiß schimmerten. »Hast du während meiner Abwesenheit viel erfahren? Hast du die Zeit gut genutzt?«
Kinson zuckte die Achseln. »Zum Teil. Setz dich und ruh dich aus. Hast du etwas gegessen?«
Er reichte dem alten Mann etwas Brot und Bier, und sie hockten sich nebeneinander und starrten auf die weite Ebene hinaus. Es war
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