Mitternachtspalast
herabstürzten. Sie spürte einen stechenden Schmerz im linken Unterarm und tastete mit der Hand nach der Stelle, wo sie getroffen worden war. Warmes Blut sickerte zwischen ihren Fingern hervor. Die Hände schützend vors Gesicht geschlagen, lief sie zum Ende des Bahnhofs.
Nachdem sie sich unter einer Treppe in Sicherheit gebracht hatte, die zu den höher gelegenen Ebenen führte, entdeckte sie vor sich einen großen Wartesaal, dessen verkohlte Holzbänke kreuz und quer auf dem Boden lagen. Die Wände waren mit merkwürdigen, hingekritzelten Zeichnungen bedeckt. Sie schienen verzerrte menschliche und dämonische Gestalten darzustellen, die lange Raubtierkrallen hochreckten und die Augen weit aufrissen. Das Vibrieren unter ihren Füßen wurde stärker. Isobel ging näher an den Tunneleingang heran. Ein heftiger, heißer Windstoß versengte ihr Gesicht, und sie rieb sich die Augen, weil sie nicht glauben konnte, was sie nun sah.
Eine in Flammen gehüllte Lokomotive tauchte aus der Tiefe des Tunnels auf und stieß gewaltige Feuerkringel aus, die wie Kanonenkugeln herumwirbelten und dann zu glühendem Gas zerplatzten. Isobel warf sich auf den Boden, und der Zug raste unter dem ohrenbetäubenden Kreischen von Metall gegen Metall und den verzweifelten Schreien Hunderter Kinder, die in den Flammen eingeschlossen waren, quer durch den Bahnhof. Wie gelähmt vor Angst, blieb sie mit geschlossenen Augen liegen, bis der Zug nicht mehr zu hören war.
Sie hob den Kopf und schaute sich um. Der Bahnhof war verlassen und von einer Dampfwolke erfüllt, die langsam nach oben stieg und im intensiven Rot des letzten Tageslichts entflammte. Knapp zwei Handbreit vor Isobel befand sich eine Pfütze mit einer dunklen und ziemlich zähen Flüssigkeit, die im Abendrot leuchtete. Für einen kurzen Moment glaubte das Mädchen in der Pfütze das leuchtende, traurige Gesicht einer in Licht gehüllten Dame zu sehen, die nach ihr rief. Sie streckte die Hand aus und tauchte die Fingerspitze in die klebrige, warme Flüssigkeit. Blut. Schnell zog sie die Hand wieder zurück und wischte die Finger an ihrem Kleid ab, während sich die Vision des unheimlichen Gesichts auflöste. Keuchend schleppte sie sich zur Wand und ließ sich dagegensinken, um wieder zu Atem zu kommen.
Dann richtete sie sich wieder auf und nahm den Bahnhof in Augenschein. Das Licht der Abenddämmerung erlosch langsam, bald würde es stockfinstere Nacht sein. In diesem Moment konnte sie nur einen klaren Gedanken fassen: Sie wollte keine Sekunde länger in Jheeter’s Gate bleiben. Nervös ging sie in Richtung Ausgang, und erst da entdeckte sie eine gespenstische Gestalt, die durch den Nebel, der über den Bahnsteigen lag, auf sie zukam. Der Unbekannte hob eine Hand, und Isobel sah, dass Flammen aus seinen Fingern schlugen und ihm den Weg leuchteten. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie nicht so leicht von diesem Ort entkommen würde.
Durch das eingestürzte Dach des Mitternachtspalasts war der sternenübersäte Nachthimmel zu sehen, ein endloses Meer winziger weißer Lichtpünktchen. Am Abend war die drückende Hitze verschwunden, die seit dem Morgen über der Stadt gehangen hatte, aber der Wind, der sanft durch die Straßen der
Schwarzen Stadt
strich, war kaum mehr als ein laues Lüftchen, getränkt von der nächtlichen Feuchtigkeit, die vom Hooghly River aufstieg.
Nur langsam verstrichen die Minuten, während Ian, Ben und Sheere in den Ruinen der alten Villa auf die übrigen Mitglieder der Chowbar Society warteten. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Ben hatte sich an seinen Lieblingsplatz zurückgezogen, einen nackten Dachbalken, der waagerecht auf der vorderen Giebelwand des Hauses auflag. Ben kletterte oft zu seinem einsamen Ausguck hinauf, um mit baumelnden Beinen die Lichter der Stadt und die Schattenrisse der Paläste und Begräbnisplätze zu betrachten, die den dunklen Lauf des Hooghly River säumten. Er konnte Stunden dort oben verbringen, ohne zu reden oder auch nur eine Sekunde nach unten zu sehen. Die Mitglieder der Chowbar Society respektierten diese Angewohnheit, eine weitere in der Sammlung von Absonderlichkeiten, die Ben an den Tag legte, und hatten gelernt, mit den langen düsteren Phasen zu leben, die unweigerlich auf seinen Abstieg aus dem Himmel folgten.
Ian sah aus dem Innenhof des Palasts zu seinem Freund hoch und beschloss, ihn nicht in seiner selbstgewählten Einsamkeit zu stören; dann wandte er sich wieder der Aufgabe zu, mit der er
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