Mitternachtspalast
sollten zurückgehen. Vielleicht wartet Isobel auf uns.«
»Glaub ich nicht«, entgegnete Siraj.
Die nächtliche Lauferei war dem Jungen anzumerken, aber zum ersten Mal seit Jahren hatte Roshan ihn nicht ein Mal über sein Asthma klagen gehört.
»Wir haben überall gesucht«, erklärte Roshan. »Mehr können wir nicht machen. Lass uns zumindest weitere Hilfe holen.«
»An einem Ort waren wir noch nicht …«
Roshan betrachtete die unheimlichen Umrisse von Jheeter’s Gate im Nebel und seufzte.
»Isobel wäre niemals so verrückt, da reinzugehen«, sagte er. »Und ich auch nicht.«
»Dann geh ich eben allein«, gab Siraj zurück und stand auf.
Roshan hörte seinen rasselnden Atem und schloss müde die Augen.
»Jetzt setz dich wieder hin«, sagte er, als er Sirajs Schritte in Richtung Brücke davongehen hörte.
Als er die Augen wieder öffnete, verschwand Sirajs schmächtige Gestalt gerade im Nebel.
»Verdammt«, murmelte er und stand auf, um seinem Freund zu folgen.
Siraj blieb am Ende der Brücke stehen und betrachtete den Eingang von Jheeter’s Gate. Roshan gesellte sich zu ihm, und gemeinsam nahmen die beiden das Gebäude näher in Augenschein. Ein kalter Lufthauch strömte aus den Tunnels des Bahnhofs, und der Geruch von verkohltem Holz und Unrat war immer deutlicher wahrzunehmen. Die Jungen versuchten etwas in der pechschwarzen Finsternis zu erkennen, die hinter dem Eingang zur großen Kuppelhalle des Bahnhofs herrschte. In der Ferne war zu hören, wie Feuchtigkeit auf die heruntergefallenen Schilder tropfte.
»Sieht aus wie das Tor zur Hölle«, sagte Roshan. »Lass uns abhauen, solange wir noch können.«
»Es ist alles eine Frage der Einstellung«, erklärte Siraj. »Stell dir einfach vor, dass es nur ein verlassener Bahnhof ist. Hier ist niemand. Nur wir.«
»Wenn niemand hier ist, warum müssen wir dann reingehen?«, protestierte Roshan.
»Du musst nicht reingehen, wenn du nicht willst«, gab Siraj ohne den geringsten Vorwurf zurück.
»Aha. Und du gehst alleine rein, ja? Vergiss es. Los.«
Die beiden Mitglieder der Chowbar Society folgten den Schienen, die von der Brücke zum zentralen Bahnsteig führten. Im Bahnhof war es noch dunkler als draußen, und zwischen gräulichen Lichtflecken konnten sie kaum irgendwelche Umrisse erkennen. Roshan und Siraj gingen langsam vorwärts, kaum einen Meter voneinander entfernt, und ihre Schritte hallten wie ein immer wiederkehrender Takt im Wispern der Luftströmungen wider, die im Inneren der Tunnels zu toben schienen wie ein fernes, wildes Meer.
»Besser, wir klettern auf den Bahnsteig«, schlug Roshan vor.
»Hier fahren seit Jahren keine Züge mehr. Ist doch egal.«
»Mir ist es nicht egal, okay?«, entgegnete Roshan, der das Bild nicht aus dem Kopf bekam, wie ein Zug aus dem Tunnel auftauchte und sie überrollte.
Siraj murmelte etwas Unverständliches, dem Tonfall zufolge Zustimmendes und wollte sich gerade auf den Bahnsteig schwingen, als etwas aus den Tunnels auf die beiden Jungen zugeflattert kam.
»Was ist das?«, flüsterte Roshan erschrocken.
»Sieht aus wie ein Stück Papier«, gelang es Siraj zu sagen. »Der Wind weht den Abfall durch die Gegend, das ist alles.«
Das weiße Blatt wehte über den Boden und blieb vor Roshans Füßen liegen. Der Junge bückte sich und hob es auf. Siraj sah, wie sein Freund jede Fassung verlor.
»Was ist denn?«, fragte er, während er spürte, wie Roshans Angst auch ihn ergriff.
Sein Freund hielt ihm schweigend das Blatt hin. Siraj erkannte es sofort. Es war die Zeichnung, die Michael von ihnen angefertigt und die er Isobel geschenkt hatte. Siraj gab seinem Freund die Zeichnung zurück, und zum ersten Mal, seit sie mit der Suche begonnen hatten, wurde ihm bewusst, dass sich Isobel in ernstlicher Gefahr befinden könnte.
»Isobel?«, rief Siraj in Richtung der Tunnels.
Das Echo hallte aus der Tiefe wider und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er versuchte, seine Atmung zu kontrollieren, was ihm immer schwerer fiel. Er wartete, bis der Widerhall seiner Stimme verklungen war, dann nahm er all seinen Mut zusammen und rief erneut.
»Isobel?«
Irgendwo im Bahnhof war ein lautes, metallisches Scheppern zu hören. Roshan schreckte hoch und blickte sich um. Der Wind aus den Tunnels schlug ihnen heftig ins Gesicht, und die beiden Jungs wichen ein paar Schritte zurück.
»Da drin ist etwas«, murmelte Siraj und deutete mit einer Ruhe, die sein Freund nicht begreifen konnte, in Richtung Tunnel.
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