Mitternachtspalast
Stärke«, gab Michael zu, »aber ich will tot umfallen, wenn das nicht der Bauplan für einen großen Flammenwerfer ist.«
Seth betrachtete die Pläne, ohne auch nur im Geringsten zu kapieren, was sie zeigten. Michael kam seinen Fragen zuvor.
»Das da ist ein Tank für Öl oder einen anderen Treibstoff.« Michael deutete auf den Plan. »Daran schließt sich dieser Ansaugstutzen an. Eine Art Pumpe, wie bei einem Brunnen. Die Pumpe versorgt diesen Flammenring mit Treibstoff. Sozusagen eine Zufuhrreglung.«
»Aber die Flammen können nur ein paar Zentimeter hoch sein«, gab Seth zu bedenken. »Ich erkenne da keinerlei Feuerkraft.«
»Beachte diese Leitung.«
Seth sah, wovon sein Freund sprach: eine Art Rohr, das an einen Gewehrlauf erinnerte.
»Die Flammen züngeln rings um die Öffnung des Rohrs.«
»Und?«
»Schau dir das andere Ende an. Da ist ein Tank, ein Sauerstofftank.«
»Allgemeine Chemie«, murmelte Seth, für den sich nun eins mit dem anderen verband.
»Stell dir vor, was passiert, wenn dieser Sauerstoff mit Druck durch das Rohr geleitet wird und auf den Flammenring trifft«, gab Michael zu bedenken.
»Ein Flammenwerfer«, bestätigte Seth.
Michael schloss die Mappe und sah seinen Freund an.
»Was für ein Geheimnis hatte Chandra zu verbergen, dass er so ein Spielzeug für einen Schlächter wie Llewelyn entwarf? Das ist, als hätte man Kaiser Nero eine Kiste Schwarzpulver geschenkt …«
»Das müssen wir herausfinden«, sagte Seth. »Und zwar schnell.«
Sheere, Ben und Ian verfolgten schweigend den fahrenden Zug auf der Platte, bis die kleine Lokomotive genau hinter der Miniaturausgabe von Chandra Chatterghees Haus anhielt. Die Lichter verloschen, und die drei Freunde standen reglos da und warteten ab, was nun passierte.
»Wie zum Teufel bewegt sich dieser Zug?«, fragte Ben. »Er muss irgendwo Energie herbekommen. Gibt es in diesem Haus einen Stromgenerator, Sheere?«
»Soweit ich weiß, nein«, antwortete seine Schwester.
»Es muss einen geben«, behauptete Ian. »Machen wir uns auf die Suche.«
Ben schüttelte den Kopf.
»Das ist es nicht, was mir Sorgen macht«, sagte er. »Einmal angenommen, es gäbe einen – ich kenne keinen Generator, der sich von allein anschaltet. Erst recht nicht, wenn er seit Jahren nicht mehr in Betrieb war.«
»Vielleicht funktioniert diese Modellbahn nach einem anderen Prinzip«, schlug Sheere nicht sehr überzeugt vor.
»Vielleicht ist noch jemand im Haus«, schloss Ben.
Ian verfluchte sein Schicksal.
»Ich wusste es …«, murmelte er mutlos.
»Warte mal!«, rief Ben plötzlich.
Ian schaute zu seinem Freund und sah, dass er erneut auf die Modellbahn zeigte. Der Zug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und fuhr nun in die entgegengesetzte Richtung.
»Er fährt zum Bahnhof zurück«, stellte Sheere fest.
Ben trat langsam an den Rand der Platte und blieb neben dem Gleis stehen, auf das der Zug nun einbog.
»Was hast du vor?«, fragte Ian.
Sein Freund gab keine Antwort, sondern streckte den Arm in Richtung Gleis aus, während die Lokomotive näher kam. Als der Zug an ihm vorbeifuhr, hob er die Lokomotive hoch, so dass die Waggons abgekuppelt wurden und allmählich an Fahrt verloren, bis sie schließlich auf dem Gleis stehen blieben. Ben trat ins Licht der Laterne und untersuchte die kleine Lokomotive genau. Ihre winzigen Räder drehten sich immer langsamer.
»Da hat jemand einen ziemlich merkwürdigen Humor«, stellte er fest.
»Warum?«, fragte Sheere.
»In der Lok befinden sich drei Bleifigürchen«, sagte Ben, »und sie sehen uns so ähnlich, dass es kein Zufall sein kann.«
Sheere trat zu Ben und nahm die kleine Lokomotive in die Hand. Die tanzenden Lichter zeichneten einen Regenbogen auf ihr Gesicht, und ihre Lippen verzogen sich zu einem schicksalsergebenen Lächeln.
»Er weiß, dass wir hier sind«, sagte sie. »Es hat keinen Sinn, sich noch länger zu verstecken.«
»Wer?«, fragte Ian.
»Jawahal«, antwortete Ben. »Er wartet. Was ich nicht weiß, ist, was er von uns will.«
Siraj und Roshan blieben vor der gespenstischen Silhouette der Eisenbrücke stehen, die sich im Nebel über dem Hooghly River verlor, und kauerten sich erschöpft an eine Mauer, nachdem sie erfolglos die ganze Stadt nach einer Spur von Isobel abgesucht hatten. Die Spitzen der Türme von Jheeter’s Gate ragten aus dem Nebel wie die Zacken eines Drachen, der in einer Wolke aus seinem eigenen Atem schlief.
»Es wird bald hell«, sagte Roshan. »Wir
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