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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Kaleidoskops zu befinden, bekrönt von einem Schlussstein aus bunten Kristallen, in dem sich das Mondlicht brach und Hunderte von blauen, roten, gelben, grünen und bernsteinfarbenen Strahlen erzeugte.
    Im ersten Stock angekommen, entdeckten sie, dass diese feinen Nadeln aus Licht wechselnde Formen und Figuren bildeten, die langsam über die Wände glitten wie die Bilder eines primitiven Kinematographen.
    »Seht euch das an«, sagte Ben und deutete auf eine große Platte von rund einem Meter Höhe, die sich über beinahe vierzig Quadratmeter erstreckte.
    Die drei traten näher und stellten fest, dass es sich um ein riesiges Modell von Kalkutta handelte, so detailgetreu und wirklichkeitsnah, dass man von nahem das Gefühl hatte, tatsächlich über der Stadt zu schweben. Sie konnten den Lauf des Hooghly River erkennen, den Maidan, Fort William, die
Weiße Stadt
, den Kali-Tempel im Süden von Kalkutta, die
Schwarze Stadt
und sogar die Basare. Sheere, Ian und Ben bestaunten lange diese außergewöhnliche Miniatur, gefangen von der Schönheit und dem Zauber, die von ihrem Anblick ausgingen.
    »Da ist das Haus«, sagte Ben.
    Die beiden anderen traten zu ihm und stellten fest, dass sich im Herzen der
Schwarzen Stadt
eine detailgetreue Nachbildung des Hauses befand, in dem sie gerade standen. Das bunte Licht der Laterne huschte durch die Straßen des Modells wie Himmelsleuchten, das die verborgenen Geheimnisse von Kalkutta offenbarte.
    »Was ist das da hinter dem Haus?«, fragte Sheere.
    »Sieht aus wie ein Eisenbahngleis«, stellte Ian fest.
    »Ist es auch«, bestätigte Ben und folgte seinem Verlauf, bis er hinter einer Eisenbrücke, die über den Hooghly River führte, die verwinkelte, majestätische Silhouette von Jheeter’s Gate entdeckte.
    »Das Gleis führt zu dem Bahnhof, der in Flammen aufgegangen ist«, sagte Ben. »Es ist ein totes Gleis.«
    »Auf der Brücke steht ein Zug«, bemerkte Sheere.
    Ben ging um die Platte herum, um näher an das Eisenbahnmodell heranzukommen, und betrachtete es eingehend. Ein unangenehmes Kribbeln lief ihm über den Rücken. Er kannte diesen Zug. Er hatte ihn vergangene Nacht gesehen und für einen Albtraum gehalten. Sheere trat schweigend zu ihm, und Ben bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte.
    »Das ist das Haus unseres Vaters, Ben«, murmelte sie. »Er hat es für uns gebaut, damit es einmal uns gehört.«
    Ben nahm Sheere in die Arme und drückte sie an sich. Ian, der am anderen Ende des Raumes stand, sah weg. Ben streichelte Sheere übers Gesicht und küsste sie auf die Stirn.
    »Ab jetzt«, sagte er, »wird es immer unser Haus sein.«
    In diesem Augenblick flammten die Lichter des kleinen Zugs auf der Brücke auf, und seine Räder setzten sich auf den Schienen in Bewegung.
     
    Während Mr De Rozio in Grabesstille sein ganzes analytisches Können und seinen ganzen Spürsinn auf die Unterlagen des Prozesses verwendete, den Oberst Llewelyn mit so großem Einsatz verhindert hatte, widmeten sich Seth und Michael einer geheimnisvollen Mappe, die Pläne und zahlreiche handschriftliche Notizen Chandra Chatterghees enthielt. Seth hatte sie ganz unten in einer der Kisten entdeckt, in denen sich die persönlichen Gegenstände des Ingenieurs befanden. Da es keine Familienangehörigen und keine Institution gab, die Anspruch darauf erhoben hätten, und es sich bei dem Ingenieur um eine Person des öffentlichen Lebens handelte, waren sie in den Archiven des Museums verschwunden. Die Bibliothek gehörte mehreren wissenschaftlichen und akademischen Institutionen Kalkuttas, darunter auch dem Institut für Ingenieurswesen, dessen ebenso angesehenes wie umstrittenes Mitglied Chandra Chatterghee gewesen war. Die Mappe besaß einen schlichten Einband, auf dem in blauer Tinte geschrieben stand:
Der Feuervogel.
    Seth und Michael hatten den Fund für sich behalten, um den Bibliothekar nicht von den Recherchen abzulenken, für die man unbedingt den Spürsinn eines alten Fuchses brauchte. Also hatten sie sich in eine Ecke des Raumes zurückgezogen und sich schweigend an die Durchsicht der Unterlagen gemacht.
    »Diese Zeichnungen sind phantastisch«, flüsterte Michael und betrachtete bewundernd die Federführung des Ingenieurs bei mehreren Entwürfen, die mechanische Objekte darstellten, deren genaue Funktion sich ihm nicht erschloss.
    »Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche«, rief Seth ihn zur Ordnung. »Was verrät uns das über den Feuervogel?«
    »Wissenschaft ist zwar nicht meine

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