Mitternachtspalast
Roshan starrte auf die schwarze Öffnung, und da sah auch er es. Die fernen Lichter eines Zugs, der immer näher kam. Er spürte die Schienen unter seinen Füßen vibrieren und sah Siraj entsetzt an.
Siraj lächelte eigenartig.
»Ich kann nicht so schnell laufen wie du, Roshan«, sagte er atemlos. »Wir beide wissen das. Warte nicht auf mich und geh Hilfe holen.«
»Was zum Teufel redest du da?«, brüllte Roshan, der genau wusste, was sein Freund vorhatte.
Die Lichter des Zuges zuckten durch die Kuppel wie ein Blitz im Sturm.
»Lauf«, befahl Siraj. »Jetzt.«
Roshan sah seinem Freund tief in die Augen und hörte, wie die Lokomotive immer näher kam. Siraj nickte. Roshan nahm all seine Kräfte zusammen und lief verzweifelt zum Ende des Bahnsteigs, um nach einer Stelle zu suchen, wo er das Gleisbett verlassen konnte. Er rannte so schnell er konnte, ohne stehen zu bleiben und zurückzublicken, denn er war sich sicher, dass er dann den Schienenräumer der Lokomotive eine Handbreit vor seinem Gesicht sehen würde. Die fünfzehn Meter, die ihn noch vom Ende des Bahnsteigs trennten, wurden zu hundertfünfzig Metern, und in seiner Panik kam es ihm vor, als verlängerte sich das Gleis vor seinen Augen zu einer schier endlosen Flucht. Als er sich schließlich auf den Boden warf und über den Schotter abrollte, glaubte er das Kreischen der Lokomotive nur Zentimeter von der Stelle entfernt zu hören, an der er hingefallen war. Er hörte die ohrenbetäubenden Schreie der Kinder und spürte zehn schreckliche Sekunden lang die Flammen auf seiner Haut, während er dachte, dass das Bahnhofsgebäude über ihm zusammenstürzen werde.
Dann wurde es plötzlich still. Roshan richtete sich auf und öffnete zum ersten Mal, seit er sich hingeworfen hatte, die Augen. Der Bahnhof lag verlassen da, keine Spur von dem Zug außer zwei brennenden Linien entlang der Schienen, die allmählich verloschen. Er merkte, wie es ihn eiskalt überlief, und rannte zu der Stelle zurück, wo er Siraj zum letzten Mal gesehen hatte. Seine Feigheit verfluchend, heulte er vor Wut, als er feststellte, dass er alleine im Bahnhof war.
Der anbrechende Tag wies ihm den Weg nach draußen.
Die ersten Vorboten der Morgendämmerung drangen schüchtern durch die geschlossenen Läden des Bibliothekssaals im Indischen Museum. Seth und Michael dösten völlig erschöpft an ihrem Tisch vor sich hin. Mr De Rozio seufzte, schob seinen Schreibtischstuhl zurück und rieb sich die Augen. Er brütete seit Stunden über diesen Dokumenten und versuchte die monströse Gerichtsakte durchzuarbeiten. Sein Magen verlangte sein Recht, jedenfalls wenn man von dem Bibliothekar erwartete, dass er seine Arbeit weiterhin einigermaßen anständig erledigte. Abgesehen davon war er mit der Kaffeezufuhr klar im Verzug.
»Ich gebe auf, ihr Schlafmützen!«, donnerte er.
Seth und Michael fuhren hoch und stellten fest, dass der Tag früher erwacht war als sie.
»Was haben Sie herausgefunden, Mr De Rozio?«, fragte Seth und unterdrückte ein Gähnen.
Sein Magen knurrte, und sein Kopf schien voller Grütze zu sein.
»Du machst wohl Witze, Junge«, sagte der Bibliothekar. »Mir scheint, ihr habt mich zum Narren gehalten.«
»Ich verstehe nicht, Mr De Rozio«, wandte Michael ein.
De Rozio gähnte genüsslich, so dass man bis tief in seinen Rachen blicken konnte, und stieß ein Grunzen aus, das die Jungs an ein Nilpferd erinnerte, das sich im Fluss suhlte.
»Ganz einfach«, sagte er dann. »Ihr kommt hierher mit einer Geschichte von Mord und Verbrechen und dieser absurden Sache mit diesem Jawahal.«
»Aber das ist alles wahr. Wir haben Informationen aus erster Hand.«
De Rozio lachte spöttisch.
»Vielleicht hat man euch ja für dumm verkauft«, entgegnete er. »In diesem ganzen Wust von Papieren wird euer Freund Jawahal nicht ein Mal erwähnt. Mit keinem Buchstaben. Null.«
Seth hatte ein Gefühl, als würde ihm sein leerer Magen durch die Hosenbeine bis in die Schuhe rutschen.
»Aber das ist unmöglich, Mr De Rozio. Jawahal wurde verurteilt und kam ins Gefängnis, aus dem er Jahre später floh. Vielleicht könnten wir dort noch einmal ansetzen. Bei der Flucht. Sie muss irgendwo erwähnt sein …«
De Rozio sah ihn aus seinen stechenden Schweinsäuglein skeptisch an. Sein Gesicht verriet deutlich, dass es keine zweite Chance gab.
»Wenn ich ihr wäre, Jungs«, riet der Bibliothekar, »würde ich dorthin gehen, wo ihr diese Geschichte herhabt, und mich vergewissern, dass
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