Mitternachtspalast
durch ein endloses Gewirr von Gängen geschleift hatte, in denen tiefschwarze Finsternis herrschte. Sie erinnerte sich auch undeutlich an eine Szene wie aus einer fernen Zeit, an Bens Gesicht, der gekrümmt auf dem Boden eines Hauses lag, das ihr irgendwie vertraut vorkam, auch wenn sie nicht wusste, wie viel Zeit seither vergangen war. Eine Stunde vielleicht, eine Woche oder ein Monat.
Als sie das Bewusstsein für ihren eigenen Körper wiedererlangte und die blauen Flecke spürte, die beim Kampf entstanden waren, begriff Sheere, dass sie schon seit einigen Sekunden wach war und die Szenerie, die sie umgab, nicht Teil ihres Albtraums war. Sie befand sich in einem langen, schmalen Raum, flankiert von zwei Fensterreihen, durch die diffuse Helligkeit drang, in der sie die Überreste einer Art Salon erkennen konnte. Die verbogenen Gerippe dreier Kristalllampen hingen von der Decke wie dürre Zweige. Hinter einem Tresen, der einmal eine luxuriöse Bar gewesen zu sein schien, blitzten die Reste eines zersprungenen Spiegels in der Dunkelheit auf. Eine luxuriöse Bar, die von einer unbarmherzigen Feuersbrunst verzehrt worden war.
Sheere versuchte aufzustehen, doch dann stellte sie fest, dass die Kette, mit der man ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt hatte, an einem dünnen Rohr befestigt war, und wusste instinktiv, wo sie war: in einem Zug, der in den Tunnels von Jheeter’s Gate gestrandet war. Die düstere Gewissheit war wie eine eiskalte Dusche, die sie aus ihrer Benommenheit riss.
Sie starrte in die Dunkelheit und versuchte zwischen umgestürzten Tischen und den Brandresten ein Werkzeug auszumachen, mit dem sie sich von ihren Fesseln befreien konnte. Der verwüstete Waggon schien nur verkohltes, unbrauchbar gewordenes Inventar zu enthalten, es war ein Wunder, dass es den Brand überhaupt überstanden hatte. Verzweifelt zerrte sie an den Ketten, erreichte aber nur, dass sich die Fesseln immer enger zuzogen.
Zwei Meter vor ihr bewegte sich plötzlich eine schwarze Masse, die sie zunächst für einen Haufen Schutt gehalten hatte, und kam mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze, die in der Dunkelheit gelauert hatte, auf sie zu. Ein Grinsen flammte in dem Gesicht auf, das im Schatten verborgen war. Ihr blieb fast das Herz stehen, als sich die Gestalt bis auf eine Handbreit näherte. Jawahals Augen funkelten wie glühende Kohlen, und Sheere nahm den durchdringenden, ätzenden Geruch von verbranntem Benzin wahr.
»Willkommen in dem, was von meinem Zuhause übrig ist, Sheere«, flüsterte Jawahal kalt. »So heißt du doch, oder?«
Sheere nickte, wie gelähmt vor Angst.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte Jawahal.
Das Mädchen schluckte die Tränen hinunter, die ihr in die Augen schossen. So schnell würde sie nicht aufgeben. Sie kniff die Augen zusammen und atmete stoßweise.
»Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche«, sagte Jawahal in einem Ton, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Sheere öffnete langsam die Augen und sah entsetzt, wie sich Jawahals Hand ihrem Gesicht näherte. Seine langen, in einen schwarzen Handschuh gehüllten Finger strichen ihr über die Wange und schoben die Haarsträhnen beiseite, die ihr in die Stirn fielen. Die Augen ihres Entführers schienen für einen Moment zu verblassen.
»Du siehst ihr so ähnlich …«, flüsterte Jawahal.
Die Hand zuckte zurück wie ein erschrecktes Tier, und Jawahal stand auf. Sheere merkte, wie sich die Fesseln in ihrem Rücken lösten. Ihre Hände waren frei.
»Steh auf und komm mit«, befahl Jawahal.
Sheere gehorchte folgsam und ließ Jawahal vorausgehen. Doch als sich die schwarze Gestalt ein paar Meter durch den Schutt des Waggons entfernt hatte, rannte sie in die entgegengesetzte Richtung davon, so schnell es ihre steifen Muskeln erlaubten. Das Mädchen stürzte durch den Waggon und warf sich gegen die Tür, die zu einer kleinen Plattform zwischen den Wagen führte. Sie legte ihre Hand auf den geschwärzten Griff und drückte ihn mit aller Kraft nach unten. Das Metall gab nach wie weicher Ton, und Sheere beobachtete fassungslos, wie es sich in fünf spitze Klauen verwandelte, die sie am Handgelenk packten. Langsam wölbte sich die Tür und nahm die Gestalt einer glänzenden Statue an, aus deren glattem Gesicht sich Jawahals Züge herausbildeten. Ihre Beine gaben nach, und sie sank vor ihm auf den Boden. Jawahal zerrte sie hoch, und das Mädchen sah den nur mühsam zurückgehaltenen Zorn in seinen Augen.
»Versuch nicht,
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