Mitternachtspalast
einem schrecklichen Marsch durch die Dunkelheit, der ihr Stunden zu dauern schien, erkannte Isobel die Umrisse eines unheimlichen Zuges, der in der Finsternis stand. Sie ließ sich bis zum hintersten Waggon zerren und leistete keinen Widerstand, als sie unsanft hineingestoßen und eingesperrt wurde.
Isobel war auf dem verkohlten Boden des Waggons gelandet und bemerkte einen stechenden Schmerz im Bauch. Irgendein Gegenstand hatte ihr einen mehrere Zentimeter langen Schnitt zugefügt. Sie stöhnte. Als sie plötzlich von Händen gepackt wurde, die versuchten, sie umzudrehen, wurde sie von absoluter Panik ergriffen. Sie schrie auf und sah dann das schmutzige, erschöpfte Gesicht eines Jungen vor sich, der noch verängstigter zu sein schien als sie.
»Ich bin’s, Isobel«, flüsterte Siraj. »Hab keine Angst.«
Zum ersten Mal im Leben ließ Isobel vor Siraj ihren Tränen freien Lauf und klammerte sich an den knochigen, schmächtigen Körper ihres Freundes.
Ben und seine Begleiter blieben unter der Uhr mit den zerflossenen Zeigern stehen, die sich am zentralen Bahnsteig von Jheeter’s Gate befand. Ringsum war ein unergründliches Schauspiel aus Schatten- und Lichtflecken zu sehen, die durch die ehemals verglaste Eisenkuppel fielen und die Überreste dessen erahnen ließen, was einmal der prächtigste Bahnhof gewesen war, der je erdacht wurde, eine Kathedrale aus Stahl, errichtet für den Gott der Eisenbahn.
Als sie so dort standen, konnten sich die fünf Jungen vorstellen, wie Jheeter’s Gate vor dem Unglück ausgesehen haben musste: eine gewaltige, lichtdurchflutete Kuppel, getragen von feinen Bögen, die in der Luft zu schweben schienen und lange Reihen von Bahnsteigen überwölbten, welche einen weiten Bogen bildeten. Große Anzeigetafeln mit den Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge. Schalter aus verschnörkeltem Schmiedeeisen. Palastartige Treppenaufgänge, die in verglasten Lichtschächten zu den oberen Ebenen führten und in der Luft schwebende Aufgänge bildeten. Die vielen Menschen, die in den Wartesälen umherschlenderten und lange Expresszüge bestiegen, die sie zu sämtlichen Punkten des Landes bringen würden … Von all dieser Pracht war kaum mehr geblieben als ein schwacher Abglanz, eine Art Vorhof zur Hölle, die die Tunnels zu verheißen schienen.
Ian betrachtete die von der Hitze verformten Uhrzeiger und versuchte sich die Gewalt des Feuers vorzustellen. Seth trat zu ihm. Beide vermieden es, etwas zu sagen.
»Wir sollten uns bei der Suche in Zweiergruppen aufteilen. Das Gebäude ist riesig«, stellte Ben fest.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, widersprach Seth, dem das Bild der ins Wasser stürzenden Brücke nicht aus dem Sinn ging.
»Und selbst wenn wir es so machen würden, sind wir nur zu fünft«, gab Ian zu bedenken. »Wer sollte dann allein gehen?«
»Ich«, entgegnete Ben.
Die anderen sahen ihn in einer Mischung aus Erleichterung und Besorgnis an.
»Ich halte das nach wie vor für keine gute Idee«, sagte Seth.
»Ben hat recht«, mischte sich Michael ein. »Nach dem, was wir bisher erlebt haben, ist es ziemlich egal, ob wir zu fünft oder fünfzig sind.«
»Ein Mann weniger Worte, aber immer zuversichtlich«, bemerkte Roshan.
»Michael«, schlug Ben vor, »du und Roshan, ihr könnt die oberen Ebenen absuchen. Ian und Seth übernehmen diese Ebene.«
Niemand schien über die Verteilung der Aufgaben diskutieren zu wollen. Das eine war so unangenehm wie das andere.
»Und wo willst du suchen, Ben?«, fragte Ian, der die Antwort ahnte.
»In den Tunnels.«
»Unter einer Bedingung«, warf Seth ein und versuchte, den Verstand einzuschalten.
Ben nickte.
»Kein Heldentum, keine Dummheiten«, erklärte Seth. »Der Erste, der etwas entdeckt, bleibt stehen, markiert die Stelle und geht dann die anderen holen.«
»Klingt vernünftig«, bemerkte Ian.
Michael und Roshan nickten zustimmend.
»Ben?«, fragte Ian.
»Einverstanden …«, nuschelte der.
»Wir haben dich nicht verstanden.«
»Versprochen«, sagte Ben. »Wir treffen uns in einer halben Stunde wieder hier.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte Seth.
In Sheeres Erinnerung schrumpften die letzten Stunden zu wenigen Sekunden zusammen, in denen sie unter dem Einfluss einer starken Droge gestanden zu haben schien, die ihre Sinne vernebelte und sie in bodenlose Tiefen stürzte. Sie erinnerte sich vage an ihre vergeblichen Versuche, sich dem eisernen Griff dieser Feuergestalt zu entwinden, die sie
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