Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
jeden Tag ein anderes Kleid und lud die jüngeren Damen sogar dazu ein, ihren Kleiderschrank in Augenschein zu nehmen.
Es tat ihr in der Seele weh, dass ihren Besucherinnen Mode weitaus mehr bedeutete als ihr selbst. Sicher, die Kleider waren schön, aber verflixt unbequem mit den vielen Haken und Spitzen und Überröcken, mit denen man ständig irgendwo hängen blieb. Am liebsten hätte sie das grüne Musselinkleid der aparten, jungen Kriegerwitwe geschenkt und das plissierte Seidenkostüm der armen Prudence Wade mit ihren entstellenden Windpockennarben. Allerdings wären beide Frauen zu stolz gewesen, ein solches Geschenk von ihr anzunehmen.
Aber es kamen nicht nur Frauen, auch eine ganze Reihe Männer unterschiedlichen Alters wurde bei Kit vorstellig. Die Herren luden sie zu Kutschwagenfahrten und Picknicks ein, belagerten sie nach der Kirche und rissen sich darum, sie zu Vorträgen und sonstigen Darbietungen zu begleiten. Sie lehnte jedes Mal höflich ab, indem sie ihnen erklärte, dass sie bereits mit Mr. Parsell und seinen Schwestern verabredet sei.
Brandon war ungeheuer aufmerksam, obwohl sie ihn des öfteren brüskierte. Trotzdem blieb er ihr treuer Begleiter, und sie war sich sicher, dass er ihr in naher Zukunft einen Heiratsantrag machen würde. Ein halber Monat war vorbei, also durfte es nicht mehr allzu lange dauern.
Seit ihrer hitzigen Diskussion sah sie Cain höchstens bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Die Dampfmaschinen für die Spinnerei waren eingetroffen und mussten schleunigst
installiert werden. Kaum dass er auftauchte, war sie sich seiner Präsenz unangenehm bewusst. Sobald sie sich von ihm beobachtet fühlte, flirtete sie hemmungslos mit ihren zahlreichen Bewunderern. Ein ums andere Mal schien Cain amüsiert, dann wieder verdunkelte sich sein Gesicht, als wollte er sie mit bloßen Händen erwürgen.
Klatsch und Tratsch verbreiteten sich schnell, und Kit blieb keinesfalls verborgen, dass man Cain in Begleitung der bezaubernden Veronica Gamble gesehen hatte. Die geheimnisvolle Veronica war für die örtlichen Frauen ein Quell der Spekulation. Obwohl aus Carolina stammend, machte der eigenwillige Lebensstil, den sie nach ihrer Heirat gepflegt hatte, sie zu einer Fremden. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass ihr Gatte sie splitterfasernackt auf dem Sofa gemalt habe und das aufreizende Bild für jeden sichtbar in ihrem Schlafzimmer hänge.
Als Kit einmal abends die Treppe hinunterkam und ins Speisezimmer steuerte, bemerkte sie Cain im Salon in eine Zeitung vertieft. Er hatte seit Tagen nicht mehr mit ihnen zusammen gegessen. Umso erstaunter war sie, ihn zu sehen. Noch dazu in formeller Abendgarderobe, schwarzer Anzug und weißes Hemd, statt der lässig-bequemen Kleidung, die er ansonsten bei Tisch trug.
»Gehen Sie noch aus?«
»Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich esse heute Abend hier.« Er senkte die Zeitung. »Aber wir haben einen Gast.«
»Einen Gast?« Kit blickte missfällig auf ihr angeschmuddeltes Kleid und die tintenverschmierten Finger. »Wieso haben Sie mir das nicht früher gesagt?«
»Hab nicht dran gedacht.«
Kit hatte einen grässlichen Tag hinter sich. Am Morgen war Sophronia wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden, und sie hatten sich ständig in den Haaren gelegen. Dann
mussten ausgerechnet auch noch Reverend Cogdell und seine bessere Hälfte auftauchen. Dass die junge Frau mit einer Gouvernante auf Risen Glory lebte, die nicht ganz richtig tickte, sei den Leuten ein Dorn im Auge. Sie solle doch vorübergehend zu ihnen ziehen, drängten sie. Kit hatte die beiden nahezu beruhigt, als Miss Dolly hereinschneite und darauf bestand, Verbandsmaterial für die Verwundeten zu rollen! Nach dem überstürzten Aufbruch der Cogdells hatte Kit Sophronia beim Reinigen der Chinatapete im Esszimmer geholfen. Zu allem Überfluss war ihr dann noch ein Tintenfässchen umgefallen, als sie Elsbeth schreiben wollte. Entnervt hatte sie sich daraufhin für einen Spaziergang entschieden.
Deshalb war ihr vor dem Abendessen auch keine Zeit zum Umziehen geblieben. Und für Miss Dolly war ihr einfaches Musselinkleid lange gut genug. Sie würde zwar mit ihr schimpfen, aber das tat sie sowieso. Unschlüssig blickte sie von den Tintenflecken auf das lehmbespritzte Kleid. Sie hatte ein Spatzenjunges aus den Brombeerranken befreit und sich dabei ins weiche Gras gekniet.
»Ich muss mich noch umziehen«, sagte sie zu Lucy, die eben in der Salontür auftauchte.
»Miz Gamble ist da.«
Veronica
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