Mitternachtsspuren - Mignani, L: Mitternachtsspuren
Wenn sie sprang, würde sie im Wasser landen. Sie wusste es.
Kendrick und Dàn zogen sie ein paar Meter zurück.
„Wir tun es zusammen.“ Kendricks Tonfall zeigte ihr deutlich, dass er keinerlei Skrupel besaß, sie durch den Bach zu treiben.
Sie gewährten ihr keine Zeit für Bedenken, packten ihre Handgelenke und rannten los. Mit einem Satz überquerten sie das Wasser. Sobald ihre Füße auf den Boden prallten, löste sich der Nebel flimmernd auf. Auf einem der Gipfel thronte ein dunkles Gebäude mit vier Türmen. Seltsamerweise regnete es nicht, die Sonne schien auf sie herab. Üppiges Grün beherrschte die Landschaft. Als Morven sich umdrehte, sah sie auf eine undurchdringliche Nebelwand. Die Seiten hatten sich gedreht. Es war verrückt.
„Wir befinden uns in dem Königreich von Draehda. Menschen vermögen nicht, auf diese Seite zu gelangen.“ Kendrick zog ihr bei seinen Worten die Mütze vom Kopf. „Wir sollten kurz rasten.“
Sie lächelte ihn dankbar an, der lange Marsch im Regen hatte an ihren Kräften gezehrt. Er drückte ihr trockene Sachen in die Hand. Grinsend hielt er ihr schwarze Spitzenunterwäsche aus Baumwolle vor die Nase, praktisch und hübsch.
„Soll ich dir beim Umziehen helfen, Flùr?“
Wie wahre Gentlemen drehten sie ihr den Rücken zu. Es stellte sich heraus, dass sie kein Gentleman war, sie riskierte einen Blick.
Bei den Heiligen! Vielleicht sollte sie Morris’ Hintern noch mal in Erwägung ziehen.
Gefährtin
.
Morvens Anspannung wuchs. Einerseits wollte sie alles über April Wind erfahren, andererseits wusste sie nicht, wie viel sie an Bösartigkeit noch verkraften konnte. Eines wusste sie definitiv: Nie wieder durfte ihre Mutter sie kontrollieren. Der Hass auf sie steigerte sich mit jedem Schritt. Kendrick griff nach ihrer Hand.
„Flùr, lass nicht zu, dass Hass dein Leben bestimmt.“
„Schon gut, Obi-Wan. Ich versuche, zu widerstehen.“ Sie lächelte halbherzig. „Du weißt nicht, wie es sich angefühlt hat, dieses Ding in mir zu spüren.“
„Doch, Flùr, ich fühlte es in sämtlichen Fasern meines Körpers.“
Schweigend setzten sie den Weg fort. Sie brauchte jeden Atemzug, um den steilen Aufstieg zu bewältigen.
Erwähnte sie, dass sie an Höhenangst litt? Unter normalen Umständen wäresie nicht in der Lage, den Berg zu bezwingen. „Wir sichern dich mit Seilen. Du wirst nicht abstürzen. Sieh mich an, Morven.“ Kendrick sah ihr in die Augen, durchbrach ihre Furcht, dennoch verlangte es viel von ihr. Sie legten ihr einen Klettergurt um. Auch wenn eiserne Schellen und Stahlseile das Klettern erleichterten, drohte der Schwindel sie zu überwältigen. Sie klammerte sich mit zusammengekniffenen Lidern an eine Halterung, nicht fähig, sich zu rühren.
„Lass mich es versuchen.“ Lior schwebte an einem Seil neben ihr. „Wenn du mich nicht ansiehst, küsse ich dich.“
In dem Moment, als sie gehorchte, versank sie in seiner Aura.
Sie kam zu sich, als sie das Gipfelplateau erreichte.
Kendrick zog sie in seine Arme und Morven sah in die schwindelerregende Tiefe, spürte die Höhenangst, als würde jemand mit Gewalt ihren Herzschlag beschleunigen, das Blut durch ihre Adern treiben. Sie glaubte kaum, dass sie den steilen Aufstieg bewältigt hatte. Sie fasste den Entschluss, nie mehr in Liors Augen zu sehen.
„Etwas stimmt nicht.“ Liors angespannter Ton entlockte ihr ein Seufzen. Wie könnte es anders sein?
„Normalerweise wären wir von Draehdas Assesinnen empfangen worden“, klärte Kendrick sie auf.
Petes Augen glänzten quecksilbergleich, er sah starr auf die massive Holzbrücke.
„Die Gargoyles sind zerstört.“ Fassungslosigkeit war in Liors Stimme zu hören, er bückte sich und strich über die steinernen Überreste, die zerbrochen am Anfang der Brücke lagen. Ein lähmendes Angstgefühl beschlich sie. Kendrick berührte sie an den Schläfen.
„Lass dich nicht von deiner Angst besiegen. Such deine Kräfte in dir, halte dich daran fest. Du bist die Armanach, keine wehrlose Frau. Konzentriere dich.“
Morven atmete durch. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, ausgehend von dem Tattoo. Ihre Haut schimmerte bläulich.
Dann lachte sie trocken auf. Dass es Gargoyles gab, überraschte sie nicht im Mindesten.
„Du bleibst zwischen uns.“ Kendrick und Lior liefen vor ihr, Pete und Dàn hinter ihr.
Sie hörte das zischende Geräusch, als sie ihre Schwerter aktivierten.
„Eine Axt?“, fragte Dàn. Sie drehte sich um. Pete Morris hielt
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