Mitternachtsstimmen
Brust. »Es war nicht meine Absicht, von der Schule
verwiesen zu werden«, nuschelte er kleinlaut.
»Ist ja gut«, tröstete ihn Caroline. »Ist ja nur für zwei
Wochen. In der Zwischenzeit gehst du eben mit mir zur Arbeit.
Vielleicht wirst du einmal der jüngste Antiquitätenhändler von
New York.«
Eine halbe Stunde später trat Caroline aus dem Aufzug, dicht
gefolgt von Ryan, der endlich seine Angst vor diesem
ratternden Messingkäfig überwunden hatte. Als Rodney ihnen
zunickte und einen Guten Morgen wünschte, schob Ryan seine
Hand in die ihre und lief plötzlich so schnell, dass er sie
geradezu durch die Eingangstüren und hinaus in den hellen
Sonnenschein zerrte. »Du meine Güte, Ryan«, sagte sie, »der
gute Mann beißt dich doch nicht.«
Aber Ryan hörte ihr gar nicht zu. Er war plötzlich stehen
geblieben und starrte wie gebannt den Gehsteig entlang. Zuerst
wusste Caroline nicht, was ihn so fesselte, doch dann kam
ihnen eine Frau in einem leichten Mantel entgegen, die ihr
bekannt vorkam, die sie aber momentan nicht unterbringen
konnte. Als die Frau an ihnen vorbeiging und ihnen freundlich
zunickte, drehte Ryan sich um und starrte ihr nach.
»Ryan, lass das. Es ist unhöflich, andere Leute anzustarren.
Besonders Fremde.«
»Aber es ist diese Frau«, hauchte Ryan aufgeregt, den Blick
immer noch starr auf die sich entfernende Gestalt gerichtet.
»Die mein Gesicht anfassen wollte.«
Im ersten Augenblick verstand Caroline nicht, wovon Ryan
redete, doch plötzlich begriff sie. Helena Kensington? Aber das
war unmöglich – Helena hatte einen Blindenstock bei sich
gehabt, und …
Noch ehe sie ihren Gedanken zu Ende denken konnte, hatte
die Frau, die Ryan anstarrte, die drei Stufen zum Rockwell
erklommen und war dabei, die schwere Eingangstür
aufzuziehen. Kurz bevor sie eintrat, drehte sie sich noch einmal
zur Straße um, so dass Caroline ihr Gesicht jetzt ganz deutlich
sehen konnte.
Ryan hatte Recht: Es war Helena Kensington. Doch keine
Spur von einer Sehbehinderung, geschweige denn dem
Blindenstock, mit dem Caroline sie das letzte Mal gesehen
hatte. Sie stand immer noch verdutzt da und starrte die
vermeintliche Helena Kensington an, als diese ihr abermals
zunickte, lächelte und dann hinter den schweren Flügeltüren
verschwand.
Helena Kensington blieb stehen, um ihren Augen Gelegenheit
zu geben, sich von dem grellen Tageslicht draußen an die
sanfte Beleuchtung der Lobby im Rockwell zu gewöhnen, und
genoss die kurze Weile, die es dauerte, bis die Möbel um den
Kamin, die Bilder und die wundervollen Wandgemälde
langsam Gestalt annahmen. Die Eingangshalle sah besser aus –
die Farben der Wandgemälde waren frischer als sie sie in
Erinnerung hatte, und die Polster der Möbel waren anscheinend
gereinigt worden. Es war längst nicht mehr so finster hier wie
damals, bevor ihr Augenlicht sie im Stich gelassen hatte.
Vielleicht hatte sich auch gar nichts verändert – vielleicht lag
es daran, dass sie nun wieder alles deutlich erkannte. Im
Grunde war es auch gar nicht wichtig; es zählte einzig und
allein die Tatsache, dass sie wieder sehen konnte. Und zwar so
gut, dass sie jetzt den Führerschein machen könnte. Das hatte
ihr zumindest der Augenarzt von LensMasters versichert,
einem Optikerladen an der Amsterdam Avenue, wo man
einfach nur hineinspazieren und um Untersuchung der Augen
bitten musste. Helena war sich nicht sicher, ob ihr dieses
System gefiel, andererseits wusste sie aber, dass einen die
Welt, wenn man in der Vergangenheit stecken blieb, ganz
schnell überholte.
»Perfekt«, hatte der Optiker verkündet, nachdem Helena
durch ein Prüfgerät geschaut hatte, »Sie haben die Augen eines
Teenagers.«
»Das ist wohl geschmeichelt«, hatte Helena erwidert. »Aber
ich bin zufrieden.« Mit der Versicherung, dass sie wahrscheinlich die nächsten zwanzig Jahre keine Lesebrille benötigen
werde, hatte sie die Rechnung bei der merkwürdig aussehenden
jungen Frau an der Kasse bar bezahlt und war dann weiter die
Amsterdam Avenue hinunter geschlendert und hatte interessiert
all die neuen Geschäfte und Restaurants betrachtet, die in den
letzten Jahren eröffnet hatten.
Die Nachbarschaft, hatte Helena bemerkt, veränderte sich,
doch diesmal zumindest, wie es schien, zum Besseren.
Wieder zurück in der vertrauten Umgebung des Rockwell,
strebte Helena dem Aufzug zu, blieb aber kurz stehen, um
Rodney etwas zu fragen.
»Haben Mrs. Fleming und ihr Sohn
Weitere Kostenlose Bücher