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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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einer Stunde verlassen,
Laurie eine halbe Stunde später. Ryan war zum Frühstück
heruntergekommen – aber erst, als er sicher war, dass Tony
weg war – und danach sofort wieder in seinem Zimmer
verschwunden.
    Den ganzen Morgen über hatte Caroline hartnäckig versucht,
diese Tür zu ignorieren. Aber ihr letzter Gedanke vor dem
Einschlafen gestern Abend hatte Tonys Arbeitszimmer
gegolten, und ebenso der erste an diesem Morgen. Zweimal
war sie knapp davor gewesen, Tony zu fragen, ob er Ryan in
dem alten muffigen Zimmer überrascht hatte, doch beide Male
hatte sie sich an die panische Angst in der Stimme ihres Sohnes
erinnert, als er sie angefleht hatte, Tony nichts davon zu
verraten. Und obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, dass es
stimmte, was Ryan ihr berichtet hatte, brachte sie es nicht über
sich, das ihm gegebene Versprechen zu brechen. Doch in dem
Augenblick, als sie an diesem Morgen an der verschlossenen
Tür vorbeigekommen war, hatte sie sich von Tonys Arbeitszimmer angezogen gefühlt wie Eisen von einem Magneten,
und jetzt, nachdem Tony und Laurie außer Haus waren und
Ryan oben in seinem Zimmer saß, ging sie noch einmal zu
dieser Tür. Eine ganze Zeit lang stand sie davor, lauschte dem
Ticken der alten Großvateruhr neben der Garderobe.
Worauf wartete sie?
    Glaubte sie etwa, die schwere Mahagonitür würde durchsichtig werden, wenn sie sie nur lange genug anstarrte?
Oder fürchtete sie sich vor dem, was sie dahinter finden
könnte?
Was konnte das schon sein? Es war nur ein Zimmer, die
Einrichtung altmodisch und abgewohnt. Aber so mochte es
Tony eben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass in diesem
Raum irgendwelche großartigen Geheimnisse verborgen
waren.
Ihre Hand schloss sich um den verzierten Kristallknopf. Sie
drehte ihn.
Abgeschlossen.
War das Zimmer schon vorher abgeschlossen gewesen, oder
hatte Tony es erst verschlossen, nachdem er Ryan dort
überrascht hatte? Sie wusste es nicht genau, glaubte aber, dass
es beim ersten Mal, als Tony es ihr gezeigt hatte, offen
gewesen war, und offenbar auch damals, als Ryan sich hineingeschlichen hatte. Auf einmal unterlag das schlechte Gewissen,
in Tonys Arbeitszimmer einzudringen, dem dringenden
Verlangen zu wissen, was Ryan in dem Zimmer entdeckt hatte
und was Tony veranlasst hatte, es abzusperren. Aber wo war
der Schlüssel? Brauchte sie überhaupt einen? Seit sie in dem
Antiquitätenladen arbeitete, hatte sie ein Dutzend Schlösser
aufgebrochen, die meisten an Schreibtischen, aber auch einige
von großen Schränken. Außerdem musste es irgendwo
Schlüssel geben. Sie ging in die Küche und kramte die
Schubladen unter der Anrichte durch. Die Dritte von oben,
rechts neben der Spüle erwies sich als die KrimskramsSchublade, die es in jedem Haushalt gab, und nachdem sie alle
anderen Laden durchgesehen hatte, nahm sie sich jene noch
einmal genau vor. Nichts.
Dann ging sie durch die Wohnung, inspizierte jede Tür, aber
in keiner steckte ein Schlüssel. Auch in der oberen Etage nicht.
Nirgendwo ein Schlüssel? Das war doch seltsam.
Von wachsender Neugier getrieben, ging sie wieder hinunter
in die Küche, zog noch einmal die dritte Lade heraus, doch
diesmal suchte sie nach etwas, das sich als Dietrich verwenden
ließe. Eine dicke Büroklammer erschien ihr geeignet, und
nachdem sie sie mit Hilfe einer Zange aufgebogen und an
einem Ende das letzte kurze Stück zu einem rechten Winkel
abgeknickt hatte, ging sie zurück zum Arbeitszimmer, führte
die umfunktionierte Büroklammer in das Schloss ein und
tastete nach dem Schließhaken.
Es dauerte keine Minute, da schnappte das Schloss auf.
Als Caroline jetzt den Knopf drehte, schwang die Tür auf.
Sie blieb auf der Schwelle stehen, schaute in den Raum.
Irgendetwas war anders.
Aber was?
Ihr Herz schlug schneller, als sie das Arbeitszimmer betrat
und die Messinglampe über Tonys Schreibtisch anknipste.
Licht durchflutete den Raum, und Caroline sah sich genau um.
Bis jetzt hatte sie nur einmal einen kurzen Blick in das Zimmer
geworfen, und soweit sie jetzt erkennen konnte, schien sich
nichts wirklich verändert zu haben – die Möbel, die Wandverkleidung, die Bilder, alles sah so aus wie zuvor. Und
trotzdem fühlte sie einen Unterschied. Mit gerunzelter Stirn
ging sie weiter in den Raum hinein. Der Teppich, ein alter
Aubusson, schien heller zu sein als sie ihn in Erinnerung hatte,
und sie hätte schwören können, dass das Leder des alten
Ohrensessels neben dem

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