Mitternachtsstimmen
Kamin beim letzten Mal viel
abgeschabter war als jetzt. Vielleicht aber hatte sie den Raum
als sehr viel renovierungsbedürftiger in ihrer Erinnerung
gespeichert, als er tatsächlich war. Sie hielt nach dem
Fotoalbum Ausschau, das Ryan ihr beschrieben hatte, fand
auch einen relativ staubfreien viereckigen Fleck auf der Ablage
unter dem Lampentisch neben dem Kamin von der Größe eines
Fotoalbums, doch das Album selbst fand sich nirgendwo.
Hinter dem Schreibtisch blieb sie stehen und zog an den
Schubladen.
Und fand jede Einzelne verschlossen. Auch mit ihrem
provisorischen Dietrich hatte sie hier keinen Erfolg. Sie
überlegte gerade den nächsten Schritt, als es an der Tür
klingelte. Wie ein Kind, das mit den Fingern in der Keksdose
ertappt wird, zuckte sie zusammen, rannte zur Tür, machte sie
zu und wollte mit dem Dietrich wieder abschließen.
Aber es klappte nicht.
Wieder klingelte es an der Tür.
Sie fluchte leise und wollte das Schloss schon Schloss sein
lassen, doch bei der letzten Drehung rastete der kleine Bolzen
ein.
Beim dritten Klingeln zog sie die Wohnungstür auf und sah
Melanie Shackleforth, die gerade wieder die Treppe hinaufgehen wollte.
»Ah, Sie sind doch zu Hause«, sagte Melanie und kam
zurück. »Ich dachte mir schon, dass Sie Ihre Meinung, dass ich
auf Ryan aufpassen sollte, während Sie arbeiten gehen,
geändert haben.«
Caroline starrte Melanie verdutzt an. Sie erinnerte sich
natürlich, dass sie gestern Abend mit Melanie darüber
gesprochen hatte, aber es war noch nichts definitiv entschieden
worden, oder? »Ich … äh, ich weiß noch gar nicht, ob ich heute
arbeiten gehe.« War ein Zucken in Melanies Augen gewesen?
Sie war sich nicht sicher – sie glaubte ja, aber –
»Nun, wenn Sie es sich noch anders überlegen, sagen Sie
einfach Bescheid, okay?« Caroline nickte, und jetzt legte
Melanie den Kopf schief und musterte sie. »Ist alles in
Ordnung, Caroline?«
»Ja, ja«, beeilte sich Caroline zu versichern, wusste aber
gleichzeitig, dass dem überhaupt nicht so war. »Es ist nur –«,
begann sie, schwieg dann aber. Sie kannte Melanie
Shackleforth doch kaum. Wie könnte sie ihr von all den
schrecklichen Gedanken erzählen, die ihr durch den Kopf
spukten? Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Nein, es ist
nichts, wirklich. Manchmal hat man nur den Eindruck, dass
einem alles über den Kopf wächst. Aber ich werde mich da
schon durchkämpfen – bestimmt.«
Melanie schien nicht so recht überzeugt zu sein. »Sind Sie
sicher?« Caroline nickte mit sehr viel mehr Nachdrücklichkeit,
als sie empfand. »Also schön. Aber wenn Sie Hilfe brauchen,
dann melden Sie sich, ja?«
Nachdem sie die Wohnungstür geschlossen hatte, blieb
Caroline noch einem Moment mit dem Rücken dagegen
gelehnt stehen, dann ging sie hoch in Ryans Zimmer. Er lag auf
dem Bett, hatte noch seinen Morgenmantel an und irgendein
Videospiel in der Hand. Als er zu ihr hochsah, fiel ihr sein
streitlustiger Blick auf, und seine Stimme, als er sie ansprach,
war ebenso finster wie seine Miene.
»Ich bleibe nicht bei –«, begann er, doch Caroline ließ ihn
nicht ausreden.
»Das verlange ich auch gar nicht von dir«, sagte sie. »Ich
möchte, dass du dich jetzt anziehst – du kommst mit mir in den
Laden.«
Jetzt wurde Ryan unsicher. »Du meinst, du bist nicht mehr
böse auf mich?«
Caroline atmete tief durch und überlegte dabei, was sie
antworten sollte. Unmöglich, ihm all diese Gefühle und
Gedanken zu erklären, die in ihr brodelten – die Verunsicherung, die Angst, die Zweifel. Nein, damit wollte sie ihn
nicht belasten, nicht nachdem er seinen Vater verloren und
zweimal innerhalb eines knappen Jahres die Schule gewechselt
hatte, aus seinem Zuhause hatte ausziehen müssen, und von
ihm erwartet wurde, einen Stiefvater zu akzeptieren, wo er
doch den Tod seines leiblichen Vaters noch gar nicht
verarbeitet hatte.
Was er jetzt brauchte, war eine starke Mutter, die ihn stützte
und die ihn wissen ließ, dass sie jederzeit für ihn da war.
»Natürlich bin ich nicht mehr böse auf dich«, sagte sie. »Du
bist mein allerliebster Junge, und ich liebe dich mehr, als du
ahnst. Wie sehr, wirst du erst wissen, wenn du eines Tages
selbst einen Sohn hast. Ich weiß, dass du es momentan nicht
leicht hast, aber ich verspreche dir, dass wir das alles meistern
werden. Immer eins nach dem anderen, dann wird alles gut.
Okay?«
Ryan schlang die Arme um sie und vergrub sein Gesicht an
ihrer
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