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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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gerade das Haus
verlassen?«
Rodney nickte. »Vor ein paar Minuten.«
»Und ich dachte, Virginia Estherbrook wollte heute auf den
Jungen aufpassen«, erwiderte Helena mit gerunzelter Stirn.
»Nicht Miss Estherbrook«, korrigierte Rodney freundlich.
»Miss Shackleforth.«
»Wie auch immer. Aber sollte der Junge ausgehen?« Bevor
Rodney noch zu einer Antwort kam, wandte sie sich ab. »Ach,
vergessen Sie’s – ich finde schon selbst heraus, was da vor sich
geht.«
In der Aufzugkabine drückte sie den sechsten Knopf, und
kurz darauf klopfte sie energisch an Virginia Estherbrooks Tür.
Als sie keine Antwort erhielt, klopfte sie noch einmal, gab
dann auf, ging zurück zum Aufzug und fuhr hinab in die dritte
Etage. Ungeduldig tippte sie mit der Fußspitze auf den Boden,
während der Fahrstuhl im Schneckentempo nach unten
rumpelte, und als er endlich anhielt, wartete sie nicht ab, bis er
genau auf einer Höhe mit dem Boden des Flurs war, sondern
schob schon vorher die Gittertür auf. Leichtfüßig eilte sie den
Flur entlang – anstatt unsicher zu tappen wie noch vor zwei
Tagen – und klopfte an Irene Delamonds Tür. Zu ihrer
Überraschung war es Lavinia, die ihr ein paar Sekunden später
öffnete.
»Na, sieh mal einer an«, sagte Lavinia und trat einen Schritt
zurück, um die Tür ganz zu öffnen. »Kein Stock mehr?«
»Nein, seit gestern nicht mehr«, antwortete Helena in einem
Tonfall, der Lavinia Delamonds Begrüßungslächeln rasch
schwinden ließ. »Ich war gerade oben bei Virgie. Sie ist nicht
zu Hause.«
»Du meinst bei Melanie«, gab Lavinia zurück.
»Ja, von mir aus. Aber wichtig ist doch nur, wo sie ist. Sie
sollte sich heute Nachmittag doch um den jungen Ryan
kümmern, nicht wahr?«
Jetzt verschwand auch der Rest von Lavinias Lächeln. »Tut
sie das denn nicht?«
Helena funkelte ihr Gegenüber finster an. »Das bezweifle ich
sehr, nachdem ich den Burschen soeben mit seiner Mutter auf
der Straße gesehen habe.«
Lavinia schien in sich zusammenzufallen wie ein kaputter
Luftballon. »Ach herrje, meine Liebe. Was, glaubst du, hat das
zu bedeuten?«
Helena schnaubte ärgerlich. »Das bedeutet, dass etwas schief
läuft. Wo ist…« Sie unterbrach sich, suchte nach dem Namen,
den Rodney und Lavinia benutzt hatten. »Melanie?«, beendete
sie dann ihre Frage.
»Vielleicht bei den Albions. Alicia hat mir erzählt, dass Mrs.
Flemings kleine Tochter gestern bei ihnen oben war und nach
Rebecca gefragt hat.«
Jetzt war es Helena, die erschrocken einen Schritt zurück
machte. »Und, was hat sie ihr gesagt?«
»Dass Rebecca nach New Mexico verreist ist natürlich.«
»Und, hat die Kleine das geglaubt?«
»Das nehme ich doch an. Warum sollte sie nicht? Das ist
doch ein ganz einleuchtender Grund – reisen Tuberkulosepatienten denn nicht wegen des Klimas dorthin?«
Helena schloss die Augen. »Jedenfalls nicht in den letzten
fünfzig Jahren. Ich glaube, ich rufe mal besser Anthony an.«
»Ach, meine Liebe«, erwiderte Lavinia mit sorgenvoller
Miene, während ihre Finger nervös ein Taschentuch
zerknüllten. »Hältst du das für klug?«
Helena warf der anderen Frau einen düsteren Blick zu. »Tja,
ich weiß nicht«, meinte sie mit einem äußerst sarkastischen
Unterton. »Lass uns die Sache mal genau betrachten. Möchtest
du wieder zurück in deinen Rollstuhl?« Lavinia schüttelte
heftig den Kopf. »Das dachte ich mir. Genauso wenig wie ich
wieder mit meinem Blindenstock herumtappen möchte, oder
George Burton die Schmerzen seiner versagenden Nieren
ertragen will. Und was den armen Rodney betrifft –«
»Der wird noch eine Weile durchhalten«, warf Lavinia ein,
die inzwischen Knoten in ihr Taschentuch machte.
»Wird er?«, zischte Helena Kensington, jetzt sichtlich
wütend. »Wird er weiterleben? Werden wir alle leben? Oder
langsam verrotten, Stück für Stück, wie jeder andere
Leichnam? Willst du das, Lavinia? Willst du, dass deine
Knochen zerkrümeln, während das Fleisch verwest und sich
die Haut ablöst?« Lavinia Delamond kauerte gebückt an der
Wand, als müsste sie sich vor Helenas Worten schützen, aber
Helena beugte sich noch näher zu ihr hin. »Genau das wird
nämlich passieren, meine teuerste Lavinia. Wenn die Mutter
Verdacht schöpft – wenn diese Kinder fortziehen –, dann steht
uns genau das bevor.«
Unsanft stieß sie Lavinia Delamond zur Seite, hob den
altmodischen Telefonhörer von der Gabel und wählte eine
Nummer. »Mr. Fleming«, sagte sie, als

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