Mitternachtsstimmen
verborgen ist.
Sie schritt darauf zu, ganz langsam, als sähe sie sich einem
angriffslustigen Tier gegenüber, dann setzte sie sich vorsichtig
auf die Kante des abgenutzten Lederstuhls, dessen Polsterung
so alt aussah wie der Schreibtisch.
Nacheinander zog sie an den Schubladen.
Noch immer waren alle verschlossen.
Tu es einfach, ermunterte sie sich. Bring es hinter dich.
Nachdem sie sich mit einem tiefen Atemzug gewappnet
hatte, schob sie verschiedene Schlüssel in das Schloss der
breiten Mittellade.
Keiner passte.
Und dann, beim dreizehnten Versuch, ließ sich das Schloss
öffnen. Reiner Zufall, beruhigte sich Caroline. An dieser Zahl
ist überhaupt nichts dran. Alles purer Aberglaube.
Sie zog die Schublade auf. Und da lag es – ein Fotoalbum, so
dick, dass es gerade eben in die Lade passte. Und es sah
genauso aus, wie Ryan es beschrieben hatte. Ihre Hände
zitterten, als sie das Album herausnahm, auf den Schreibtisch
legte und aufklappte.
Und auf eine Fotografie von Tony starrte.
Es war eine dieser alten Sepia-Aufnahmen und zeigte Tony –
vielleicht zehn Jahre jünger als heute – in einem weißen Hemd
mit hohem weißem Kragen und einem sehr auf Figur
geschnittenen Anzug. Das Haar war in der Mitte gescheitelt,
wie es am Ende des neunzehnten Jahrhunderts Mode war, doch
abgesehen von der Frisur und der Kleidung war es zweifellos
Tony; die gleichen scharfen Gesichtszüge, der Schwung seiner
Augenbrauen, die Nasenflügel und die Form seiner Oberlippe –
all das war Tony. Carolines erster Gedanke war, dass dieses
Bild in irgendeinem Vergnügungspark aufgenommen worden
sein musste – Disney World oder Knott’s Berry Farm, wo es
viele Buden gab, die die Leute in Großvaterklamotten und
altmodischem Ambiente fotografierten. Doch als sie sich das
Bild genauer ansah, bemerkte sie die Sprünge in der Oberfläche, die vergilbten Kanten des dicken Fotokartons. Wenn es
aber tatsächlich so alt war, wie es aussah, wie konnte das Foto
dann Tony zeigen? Verwirrt runzelte sie die Stirn und
konzentrierte sich wieder auf die abgebildete Person.
Der Mann, der ihrem Ehemann so ähnlich sah, dass er sein
Zwillingsbruder sein könnte, stand vis-a-vis einer Baustelle,
und obwohl der Hintergrund sehr unscharf war, konnte
Caroline ein Baugerüst erkennen.
Sie knipste die Schreibtischlampe an und beugte sich tiefer
über das Foto. Und dann, noch bevor ihr die Wahrheit
dämmerte, spürte sie, wie sich in ihrem Magen ein Knoten
bildete. Das Gebäude auf dem Foto – das sich noch im Bau
befand – war das Rockwell. Das Herz schlug ihr bis zum Hals,
als sie wie hypnotisiert auf das Bild starrte und sich einzureden
versuchte, dass sie sich täuschte, dass hier irgendwie ein Fehler
vorliegen musste. Und dennoch hatte sie eindeutig das
Rockwell vor sich, dessen untere Etagen deutlich hinter dem
Baugerüst erkennbar waren. Und da waren auch die große
Flügeltür und die drei Stufen. Die Fenster der zweiten und
dritten Etage sahen exakt so aus wie vor wenigen Minuten, als
sie auf der anderen Straßenseite gestanden und sie mit dem
komischen Gefühl angestarrt hatte, dass sich etwas an dem
Gebäude verändert hatte.
Und jetzt sah sie dieses Gebäude, bevor es noch fertig
gestellt war, und ein Mann, der offensichtlich ihr Ehemann
war, stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, beinahe an
der gleichen Stelle wie vorhin sie selbst.
Aber der Mann auf der Fotografie konnte unmöglich Tony
sein – das Gebäude war Ende 1870 erbaut worden, noch vor
dem Dakota ein paar Straßenecken weiter.
Dann konnte es sich nur um Tonys Großvater handeln – oder
seinen Urgroßvater. Aber war es möglich, dass Tonys Familie
seit dem Tag, als dieses Gebäude fertig gestellt wurde, hier
lebte? Langsam blätterte sie weiter, und mit jeder Seite wuchs
ihre Verwirrung. Ein gutes Dutzend Aufnahmen zeigten Tony,
allein auf einigen, auf anderen in einer Gruppe mit einigen
Leuten. Auf zwei Bildern war er neben einer Frau zu sehen, die
Melanie Shackelforth so unglaublich ähnlich sah, dass Caroline
Ryans Verblüffung gut verstehen konnte. Sie blätterte weiter,
und nach dem ersten Viertel änderten sich die Bilder dann.
Nun trugen die Frauen die kurzen Röcke der zwanziger
Jahre; die Männer die entsprechenden Anzüge. Auf einer Seite
fand sie Bilder, die in einer der Wohnungen hier im Rockwell
aufgenommen worden sein könnten: der Raum auf dem Foto
zeigte die hohe Decke, die hohen Fenster und die
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