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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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die nächsten Sekunden unter beidseitigem
Schweigen verstrichen, sah er regelrecht, wie sich die Rädchen
in ihrem Gehirn drehten, und als ihr bewusst wurde, dass sie
unter Tags keinen Schritt mehr aus ihrem Laden machen
könnte, wenn sie ihn jetzt auf die Straße setzte, arrangierte sie
die Lippen zu ihrer Vorstellung von einem verständnisvollen
Lächeln.
»Ich glaube, du hast Recht«, lenkte sie unverbindlich ein.
»Sie scheint wirklich ziemlich durch den Wind zu sein. Einen
Tag oder zwei kann ich mich bestimmt noch in Geduld üben.«
Aber keinen Tag länger, setzte er im Stillen hinzu. Dann
fliegt sie.

28. Kapitel
    Unwillkürlich verlangsamte Caroline ihren Schritt, als sie und
Ryan den Park verließen und sich nach Norden wandten, und
kurz vor der 70. Straße blieb sie ganz stehen. Auf der anderen
Straßenseite erhob sich wie immer das Rockwell mit seinen
Türmchen und Kuppeln und den großen Fenstern, die wie
blinde Augen in den Park starrten. Und dennoch war etwas
anders.
    Das Gebäude wirkte irgendwie – ja wie? Freundlicher?
Sauberer? Caroline fand ein gutes Dutzend Adjektive, aber
keines schien ihren Eindruck genau zu treffen. Skeptisch
betrachtete sie die alte Steinfassade. War ein Teil des Rußes,
der sich im Laufe der Jahrzehnte darauf abgesetzt hatte,
verschwunden? Aber das war doch nicht möglich – nur die
untersten paar Meter so eines Gebäudes konnten ohne die Hilfe
eines Gerüsts gereinigt werden, zudem hatte die Schicht im
Erdgeschoss die gleiche Farbe wie oben.
    Die Fenster vielleicht? Hatte sie jemand geputzt? Aber
soweit sie sich erinnern konnte, waren die Fenster gar nicht
schmutzig gewesen, zumindest nicht in ihrer Wohnung.
    »Mom?«, fragte Ryan und zog sie am Arm. »Was schaust du
denn so?«
Caroline zögerte kurz und schüttelte dann den Kopf – sie sah
schon weiße Mäuse. Entweder das, oder das Licht spielte ihr
einen Streich. Das Gebäude konnte unmöglich plötzlich anders
aussehen als bisher; schließlich hatten keine Renovierungsarbeiten stattgefunden. »Nichts«, sagte sie und drückte kurz
seine Hand. Doch als sich wenig später eine Lücke im
fließenden Verkehr auftat und sie mit Ryan an der Hand über
die Straße rannte, erinnerte sie sich wieder an dieses komische
Gefühl, das sie am Morgen befallen hatte, als sie mit Ryan auf
dem Weg zur Arbeit durchs Foyer gegangen war.
Da hatte sie auch schon den Eindruck gehabt, dass die Möbel
nicht mehr so schäbig aussahen und auch alles andere
irgendwie freundlicher. Aber wahrscheinlich lag es nur am
Lichteinfall. Doch als sie jetzt die schwere Eingangstür aufzog
und in die Halle trat, passierte es wieder.
Das Deckengemälde schien auf einmal heller zu sein, und
der dargestellte finstere Wald sah viel sonniger aus, so als ob
sich der Himmel darüber aufgeklärt hätte. Was natürlich
Unsinn war. Um ein Gemälde zu verändern, musste man es
übermalen.
Oder die Lampen nach oben richten? Sie inspizierte die
einzelnen Wandlampen, doch das Licht, das sie verbreiteten,
war nicht heller als am Morgen, nur das Messing glänzte auf
einmal wie frisch poliert.
Nun wanderte ihr Blick zu den Möbeln. Zumindest da hatte
sich nichts verändert: das Sofa und die Sessel vor dem Kamin
sahen genauso aus wie immer.
Plötzlich zupfte Ryan sie wieder am Arm, und als sie ihn
ansah, nickte er in Richtung Portierloge. Ihr Blick folgte
seinem Nicken, und kurz bevor dieser auf Rodney traf, schaute
der Portier weg. »Rodney«, fragte sie ihn. »Ist etwas passiert?«
Hatte er kurz gezögert, ehe er den Kopf schüttelte? »Nein,
Ma’am. Alles in Ordnung.« Jetzt sah er Ryan an. »In bester
Ordnung. Ich freue mich, dass sie und der Junge wieder zurück
sind.« Daraufhin wandte er sich wieder der Zeitung zu, die
aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag, doch als Caroline
mit Ryan zum Fahrstuhl ging, überfiel sie wieder das Gefühl,
als beobachtete er sie. Nachdem sie sich ganz unvermittelt
umgedreht hatte, glaubte sie gesehen zu haben, wie er rasch
den Blick wieder auf die Zeitung senkte. »Was soll das,
Rodney?«, fragte sie.
Er sah hoch und hob dabei die dichten Brauen ein wenig.
»Ma’am?«
»Sie beobachten uns, Rodney.«
»Verzeihung?«, erwiderte der Portier mit einer so erstaunten
Miene, dass Caroline beinahe glaubte, sich nur eingebildet zu
haben, dass er zu schnell weggeschaut hatte.
Sie überlegte kurz und meinte dann leichthin: »Ach, nichts.
Ich muss mich wohl getäuscht haben.« Doch als

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