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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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sie unten am
Fahrstuhl auf den Knopf gedrückt hatten und darauf warteten,
dass die Kabine aus irgendeinem der oberen Stockwerke
herabglitt, beobachtete sie Rodney heimlich aus dem
Augenwinkel.
Er hielt den Kopf über die Zeitung gesenkt.
Als die Kabine scheppernd zum Stehen kam, und Caroline
die Tür aufzog, quetschte sich Ryan durch den Spalt, sobald
dieser groß genug war. Sie stieg nach ihm ein, schloss die Tür
und drückte den Knopf für die fünfte Etage. Rüttelnd setzte
sich die Fahrstuhlkabine in Bewegung, und kurz bevor sie aus
Rodneys Sicht verschwanden, sah dieser von seiner Zeitung
auf und nickte Caroline zu.
Dann, als er sie nicht mehr sehen konnte, heftete er seinen
Blick auf Ryan – und lächelte. Ein Lächeln, so kalt, dass Ryan
erschauderte, als hätte ihn eine eiskalte Winterböe gestreift.
    »Wieso tut er das?«, fragte Ryan beim Aussteigen, während
Caroline in ihrer Tasche nach den Wohnungsschlüsseln kramte.
»Wieso starrt er mich so komisch an?«
    »Ich glaube nicht, dass er dich angestarrt hat«, erwiderte sie.
Sie hatte den Schlüssel gefunden und war gerade am
Aufsperren. Aber sie hätte auch nicht schwören können, dass er
ihn nicht angestarrt hatte. Im Moment jedoch wusste sie auch
nicht, ob das überhaupt wichtig war. Sie drehte den Schlüssel
im Schloss, stieß die Tür auf und trat ein. Und obwohl es den
Anschein machte, als sei niemand in der Wohnung, rief sie
trotzdem: »Tony? Tony, bist du zu Hause?«
Als keine Antwort kam, schob sie die Tür hinter sich zu und
warf einen Blick auf die Uhr. Erst kurz nach elf.
    Tony hatte gesagt, er würde erst nach dem Mittagessen
heimkommen, und bis Mittag war noch fast eine Stunde hin.
Den Blick auf die Tür zu Tonys Arbeitszimmer fixiert,
bemerkte sie dennoch, dass Ryan sie beobachtete.
»Du wirst dort hineingehen, nicht wahr?«, fragte er sie.
»Ich … ich weiß nicht«, antwortete Caroline ausweichend,
weil sie ihren Sohn nicht anlügen, ihm andererseits aber auch
nicht sagen wollte, was sie vorhatte. »Sag mal, warum gehst du
nicht hinauf in dein Zimmer?«
»Ich möchte –«, begann Ryan, doch Caroline schnitt ihm
ungewollt barsch das Wort ab: »Ich sagte, du sollst auf dein
Zimmer gehen!«
Ryan, der schon wieder diesen Gewitterblick aufgesetzt
hatte, rannte die Treppe hinauf, doch oben angekommen,
drehte er sich noch einmal um. »Hoffentlich erwischt dich
Tony!«, brüllte er wutentbrannt. »Dann glaubst du mir
vielleicht!« Damit verschwand er, und einen Moment später
hörte Caroline seine Tür zuknallen. Da stand sie nun und
starrte die Tür zum Arbeitszimmer an. Bis zu diesem
Augenblick hatte sie ganz genau gewusst, was sie tun würde.
Doch jetzt, da der Moment gekommen war, und sie einen
ganzen Bund Schlüssel in der Tasche hatte, von denen ganz
gewiss einer die Tür, und ein anderer den Schreibtisch öffnen
würde, verließ sie plötzlich der Mut.
Sollte sie das wirklich tun?
Wollte sie wirklich wissen, was in diesem Schreibtisch
verschlossen war?
Sie wusste die Antwort auf diese Fragen: Durchsuchte sie
den Schreibtisch nicht, würden diese Fragen in ihrem Inneren
brodeln, bis sie nicht nur ihre Gesundheit zerstört hätten,
sondern auch ihre Ehe. Deshalb zog sie entschlossen den
Schlüsselbund aus ihrer Handtasche und begann einen
Schlüssel auszuwählen, der passen könnte.
Beim dritten Versuch klappte es bereits. Das Schloss
schnappte auf, sie drehte den Türgriff und schob die Tür auf.
Auf der Türschwelle blieb sie stehen und ließ den Blick durch
den düsteren Raum wandern. Eine böse Vorahnung beschlich
sie, ein Angstgefühl, das sich tief in ihr einnistete. Es ist nur
ein Fotoalbum, beschwichtigte sie sich. Das kann mir doch
nichts anhaben. Doch noch während sie ihre Bedenken zu
zerstreuen versuchte, wurde der Drang, umzukehren – die Tür
zu schließen und abzusperren und sich von allem fernzuhalten,
was in dem Schreibtisch verborgen sein mochte – beinahe
überwältigend. Ihre Finger schlossen sich um den Türknopf, als
wollte sie ihre eigene Stärke testen, doch dann stieß sie die Tür
hinter sich zu und machte das Licht an.
Obwohl der Kristalllüster ein helles Licht verbreitete, das die
Schatten auch aus den dunkelsten Ecken vertrieb, trug das
nichts dazu bei, die düsteren Ahnungen zu zerstreuen, die
Caroline beim Anblick des Schreibtischs ihres Mannes
befielen.
Es ist doch nur ein Schreibtisch, sagte sie sich. In dem
wahrscheinlich gar nichts Besonderes

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