Mitternachtsstimmen
Nein, das
konnte es auch nicht sein. Ryans Abneigung gegen Tony war
nicht plötzlich aufgetreten; sie war mit ihrer Beziehung zu
Tony gewachsen, und als dieser begonnen hatte, die Stellung in
Ryans Leben einzunehmen, die zuvor sein Vater innegehabt
hatte. Sicherlich war das nur der ganz normale Unwille, den
jeder Junge empfand, dessen Vater von einem anderen Mann
ersetzt wurde. Und mit Laurie war es ganz anders – sie mochte
Tony und hatte nie so etwas wie Angst vor ihm erkennen
lassen. Vielleicht täuschte sie sich auch.
Vielleicht hatten diese Fotos gar nichts zu bedeuten.
Sie klammerte sich an den schwachen Strohhalm ihrer
Selbstzweifel, fürchtete, in dem Meer an Fragen zu ertrinken,
die der Inhalt des Schreibtischs über den Mann aufgeworfen
hatte, den sie geheiratet hatte.
Oder sollte sie vielleicht gar nicht nach Antworten suchen?
Sollte sie nicht vielmehr das Nötigste zusammenpacken und
mit den Kindern von hier verschwinden?
Die Kinder!
Wo waren sie?
Wie spät war es?
Sie wollte sich aufsetzen, doch sofort befiel sie ein so arger
Schwindel, dass sie zurück in ihre Kissen sank und die Augen
schloss. Was war nur mit ihr passiert?
War sie krank?
Verschwommen erinnerte sie sich an die Notlüge, die sie
Tony aufgetischt hatte, als er sie in der Diele überrascht hatte,
schweißgebadet und kreidebleich. Grippe – das hatte sie als
Entschuldigung vorgebracht.
Und er hatte Dr. Humphries geholt.
Sie hatte zwar versucht, dagegen zu protestieren, doch Tony
bestand darauf, und da sie schon so tief in ihrer Lügengeschichte drinsteckte, konnte sie sich schlecht weigern. Dr.
Humphries war gekommen und hatte seine schwarze Tasche
mitgebracht, ihre Temperatur und den Puls gemessen und sie
beruhigt. »Kein Grund zur Sorge. Ihr Puls ist ein wenig erhöht,
aber Sie haben keine Temperatur. Doch sicher ist sicher.« Er
hatte in seiner Tasche gekramt und das entsprechende
Medikament gefunden – eine kleine Glasviole mit weißen
Kügelchen, die sie unter der Zunge zergehen lassen sollte. Sie
hatte sich mit dem Vorsatz zurückgelegt, noch ein paar
Minuten im Bett zu bleiben, dann aufzustehen und zu
behaupten, dass Dr. Humphries Recht gehabt hatte und sie sich
nach den Pillen schon wieder viel besser fühle. Nur war sie
anscheinend eingeschlafen und jetzt, da sie aufgewacht war,
fühlte sie sich überhaupt nicht besser. Noch einmal versuchte
sie sich aufzusetzen, und wieder drehte sich alles um sie
herum. Sie war entschlossen, dagegen anzukämpfen, doch als
eine Welle der Übelkeit über ihr zusammenschlug, nachdem
sie die Beine aus dem Bett geschwungen hatte, gab sie
endgültig auf, ließ sich leise stöhnend wieder in die Kissen
fallen, rollte sich auf die Seite und wartete, dass die Übelkeit
vorüberginge.
Irgendwann fühlte sie sich in der Lage, einen Blick auf die
Uhr zu werfen.
Beinahe vier – sie hatte Stunden geschlafen!
Und die Kinder?
»Laurie? Ryan?«, rief sie, doch ihre Stimme war so schwach,
dass sie unmöglich bis hinaus in den Flur reichte.
Als sie sich aufsetzte, überfiel sie prompt dieser Schwindel,
und auch die Übelkeit setzte wieder ein. Doch diesmal machte
sie keinen Rückzieher, und nach einer Weile gelang es ihr
tatsächlich aufzustehen. Sie machte einen unsicheren Schritt
Richtung Tür, aber schon beim nächsten hatte der Schwindel
sie eingeholt, und wenn sie sich nicht rasch am Nachttisch
festgehalten hätte, wäre sie umgefallen. Doch da sie wild
entschlossen war, nicht nachzugeben, blieb sie stehen und
wartete, bis der Anfall vorüber war. Als sie sich dann stark
genug fühlte, tappte sie ganz langsam zur Tür.
Ihre Hand fand den Kristallknopf, drehte ihn und zog die Tür
auf. Sie trat hinaus in den Flur. Von unten drang Tonys Stimme
herauf.
»Wenn Sie morgen noch einmal anrufen würden«, hörte sie
ihn sagen. »Ich weiß, dass meine Frau gern mit Ihnen sprechen
würde, aber sie fühlt sich heute nicht besonders und schläft
gerade.«
»Ich schlafe ni–«, begann sie mit schwacher, kaum hörbarer
Stimme, doch ehe sie den Satz beenden konnte, wurde ihr so
übel, dass sie sich am Treppengeländer festhalten musste, um
nicht zusammenzubrechen.
»Ich werde es ihr ausrichten«, sagte Tony.
»Tony?«, rief sie, nachdem er unten in der Diele den Hörer
aufgelegt hatte.
Eine Sekunde später erschien er auf dem Treppenabsatz und
spähte zu ihr hinauf. »Liebling, was machst du denn da? Du
solltest doch im Bett liegen!« Zwei Stufen auf einmal
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