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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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Bekanntschaften hingegen konnten
unbekannte Größen sein. Beim Durchblättern achtete er also
auf Einträge, die neu aussahen.
Unter dem Buchstaben »E« stieß er auf einen Eintrag, der
sorgfältig ausgestrichen war, mit einem dicken schwarzen
Filzstift absolut unleserlich gemacht. Gut, die Jungs im Labor
würden schon etwas zum Vorschein bringen, wenn es darauf
ankäme. Auf der nächsten Seite dann ein neuer Eintrag,
Caroline Fleming betreffend, mit einer Privatnummer und
einer, vor der »Laden« stand.
Stutzig geworden griff er nach dem Tagesplaner und
blätterte ihn durch, bis er zu dem Blatt kam, auf dem
»Carolines Hochzeit« notiert stand.
Demnach war Caroline also keine neue Freundin – es
handelte sich nur um einen neuen Eintrag mit dem neuen
Nachnamen einer alten Freundin.
Noch einmal ging er das Adressbuch von A bis Z durch, aber
außer Caroline Flemings Name fiel ihm kein neuer Eintrag auf;
die einzigen Ergänzungen, die neueren Datums zu sein
schienen, waren zusätzliche Telefonnummern oder E-MailAdressen. Da ihm beim Durchblättern das Gespräch mit
Nathan Rosenberg nicht aus dem Kopf ging, nahm er die
Gelben Seiten zur Hand und suchte und fand schließlich einen
Dr. Humphries.
Nach dem vierten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Ich werde ab zwei Uhr wieder in der Praxis
zugegen sein«, informierte ihn eine tiefe Stimme. »Wenn Sie
Ihre Telefonnummer hinterlassen möchten, werde ich Ihren
Anruf umgehend retournieren.« Oberholzer entschied, dass er
das nicht mochte, legte auf und nahm sich wieder das
Adressbuch vor. Er hatte beschlossen, jede dort verzeichnete
Telefonnummer anzurufen, musste aber ständig an die
Mitteilung denken, die er eben am Telefon gehört hatte. »… in
der Praxis zugegen sein … den Anruf retournieren«. Die
Ausdrucksweise klang sonderbar gestelzt, und die Stimme –
jedenfalls in Oberholzers Ohr – recht arrogant.
Na und?
Waren nicht viele Ärzte arrogant? Wenn nun aber Andrea
Costanza diesen piekfein klingenden Doktor entweder
bezüglich seiner Fähigkeiten oder seiner Weigerung, sie
Einsicht in eine Patientenakte nehmen zu lassen, kritisiert hatte,
wie mochte dieser darauf reagiert haben?
Spontan beschloss Oberholzer, sich mit dem Doktor
persönlich, statt am Telefon zu unterhalten, und gab das
Adressbuch an den neuesten Zuwachs in seiner Dienststelle
weiter, an Maria Hernandez, die gerade erst im letzten Monat
zum Detective ernannt worden war. »Fangen Sie schon mal an,
diese Leute durchzutelefonieren«, sagte er. »Und versuchen Sie
herauszufinden, wer von denen Andrea Costanza nicht ganz
wohl gesonnen war. Sie sind eine Frau – Gerüchte aufzuschnappen dürfte für Sie doch bestimmt kein Problem sein.«
Damit drehte er sich um und verließ das Büro, anscheinend
blind für den giftigen Blick, den Maria Hernandez ihm
zugeworfen hatte.
    Ganz allmählich tauchte Caroline aus tiefem Schlaf in den
Wachzustand. Ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt,
und hinter den Lidern wirbelten seltsame Traumbilder umher.
Tony war da und Virginia Estherbrook und Melanie
Shackleforth und auch all die anderen Nachbarn. Aber sie
sahen so komisch aus in den altmodischen Kleidern – und
jünger, als sie tatsächlich waren.
    Und dann, als sich der Nebel in ihrem Kopf ein wenig
lichtete, dämmerte ihr, was passiert war. Das war keineswegs
ein Traum gewesen, nein, sie war in Tonys Arbeitszimmer
gewesen, hatte seinen Schreibtisch durchsucht und –
    Beinahe hätte er sie dabei erwischt!
Die Erinnerung an die Panik, als sie die Tür zum
Arbeitszimmer nicht hatte abschließen können, wo ihr Mann
schon auf dem Weg zur Wohnungstür war, jagte ihr noch
nachträglich einen eiskalten Schauer über den Rücken, dass sie
sich unwillkürlich tiefer in die Wärme des Betts kuschelte.
Aber warum hatte sie sich so vor ihm gefürchtet? Sie hatte
doch nur Bilder von Nachbarn gefunden. Dann, als sich auch
die letzten Nebelschwaden lüfteten, fielen ihr die anderen
Fotos wieder ein – die Fotos von Kindern, sogar von ihren Kindern. Und bei manchen war das Gesicht mit einem Kreis
markiert gewesen, so als hätte man sie ausgewählt.
Ausgewählt – wofür?
Auf diese Frage gab es eine nahe liegende Antwort: Tony
war ein Perverser.
Konnte das wirklich sein?
Hatte sie einen Kinderschänder geheiratet und ihre Kinder –
Brads Kinder – in seine Wohnung gebracht?
Hasste Ryan Tony deshalb so sehr – weil er schon längst
gespürt hatte, dass mit ihm was nicht stimmte?

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