Mitternachtsstimmen
die Beine aus dem Bett.
Da waren die Stimmen wieder, doch sie klangen anders wie
die hinter der Wand. Er schlich zur Tür, öffnete sie ein wenig
und horchte.
Die Stimmen wurden lauter.
Er erkannte nur die von Tony, und da er die genauen Worte
nicht verstehen konnte, huschte er auf Zehenspitzen den Flur
entlang bis vor zur Treppe.
»Macht euch keine Sorgen«, hörte er Tony sagen. »Es wird
alles gut. Alles wird gut werden.« Dem folgte eine
Frauenstimme, doch Ryan konnte nicht verstehen, was sie
sagte. Und wieder Tony, lauter diesmal, als sei er wütend.
»Habe ich nicht immer alles in Ordnung gebracht?
Geht nach Hause und sorgt euch nicht. Lasst mich nur
machen.«
Er hörte, wie die Wohnungstür zugeschoben wurde, und sah
kurz darauf Tonys Schatten auf den unteren Treppenabsatz
fallen. Wie der Wind sauste er in sein Zimmer zurück, schloss
leise die Tür, verkroch sich in sein Bett und hätte beinahe
vergessen, den Bademantel auszuziehen, ehe er sich zudeckte.
Als es kurz darauf an der Tür klopfte, drehte er sich auf die
Seite, mit dem Rücken zum Fenster, damit kein Licht auf sein
Gesicht fiel.
Er versuchte langsam und gleichmäßig zu atmen, so als
würde er tief schlafen.
Es klickte leise, als die Tür geöffnet wurde, und hinter seinen
geschlossenen Lidern wurde es heller, als das Flurlicht in sein
Zimmer fiel.
Ryan spürte, wie Chloe sich neben ihm versteifte und hörte
sie leise knurren.
Dass Tony auf sein Bett zuging, spürte er eher, als dass er es
hörte.
»Ryan?«
Tony sprach mit leiser Stimme, die Ryan sagte, dass sein
Stiefvater sich nicht sicher war, ob er schlief oder nicht. Was
bedeutete, dass Tony ihn weder oben an der Treppe gesehen,
noch gehört hatte, wie er in sein Zimmer gerannt war.
Ryan streckte sich, gähnte und nuschelte: »Hm-mmh«, traute
sich aber nicht, sich umzudrehen und seinen Stiefvater
anzusehen.
Er merkte, dass Tony sich über ihn beugte, und plötzlich fuhr
ihm ein so ekelhafter Gestank in die Nase, dass er glaubte, sich
übergeben zu müssen. Chloe knurrte lauter, doch der Laut
brach abrupt ab, als Tony den Hund vom Bett hob.
Ryan musste sich schwer beherrschen, um dem Drang zu
widerstehen, seinen kleinen Liebling aus den Armen seines
Stiefvaters zu reißen, doch die Angst davor, zu verraten, was er
vor kurzem gesehen und gehört hatte, war stärker.
Mucksmäuschenstill lag er da und ließ nicht erkennen, dass er
wusste, dass Chloe verloren war.
»Bis morgen dann«, hörte er Tony sagen, und wieder zog
dieser entsetzliche Gestank – wie nach verwestem Fleisch –
über ihn hinweg.
»Umm-hmm«, murmelte Ryan schlaftrunken, kuschelte sich
ein und zog sich die Decke über den Kopf.
Er wartete, wagte kaum zu atmen.
Endlich wurde der schauerliche Gestank schwächer, und
dann war es wieder dunkel im Zimmer, nachdem Tony die Tür
zugezogen hatte.
Die Nacht und das Entsetzen nach dem Schrei seiner Mutter
nahmen Ryan gefangen.
Noch nie in seinem Leben hatte er sich so allein gefühlt und
so viel Angst gehabt. Doch immer wenn ihm die Tränen
kamen, wiederholte er tapfer die Worte seines Vaters:
»… Zähne zusammenbeißen und weiterspielen …«
Das Dumme war nur, dass er keine Ahnung hatte, welches
Spiel hier gespielt wurde.
34. Kapitel
Der Schlaf war eine Bürde, die so schwer auf Caroline lastete,
dass sie nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihren Körper
zerdrückte. Allein das Atmen raubte ihr so viel Kraft, dass
jeder Atemzug der letzte zu sein schien; ihr Herz fühlte sich an,
als könnte es kaum mehr schlagen, und die Abstände zwischen
den einzelnen Schlägen wurden so groß, dass sie fürchtete, der
Nächste kämme gar nicht mehr.
Ihr Verstand arbeitete genauso schwerfällig wie ihr Körper;
ihr Gehirn war kaum in der Lage, Worte für die Gedanken zu
finden, die durch ihr Bewusstsein drifteten. Und selbst wenn
die Worte sich schließlich zeigten, waren es einzelne
Bruchstücke von Sätzen, die zusammengesetzt keinen Sinn
ergaben.
… tot …
… Nachbarn …
… Tony …
… Laurie …
… entziehen … pumpen … saugen … nähren …
Steh auf.
Die simple Tatsache, dass diese beiden Worte einen verständlichen Satz ergaben, aktivierte ihren vernebelten Verstand
ein wenig und ließ das lastende Gewicht nicht mehr ganz so
tonnenschwer erscheinen. Allmählich begann ihr Verstand den
einfachen Befehl zu verarbeiten und die Folge von
Bewegungen in Gang zu setzen, die diesen ausführen würden.
Sie öffnete die
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