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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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einem wütenden Schrei brüllte sie den
Namen ihrer Tochter heraus und stürzte sich auf den Mann,
den sie geheiratet hatte; ihre Fingernägel brachen, als sie ihm
das Gesicht zerkratzte.
Die Haut gab nach, doch an Stelle von Blut sah sie unter den
Kratzern nur verwesendes, nässendes Fleisch, das eine gelbe
eitrige Flüssigkeit ausschied. Der ekelhafte, durchdringende
Verwesungsgestank, ließ Caroline ein paar Schritte zurückweichen. Falls Tony irgendeinen Schmerz fühlte, so merkte
man ihm jedenfalls nichts an. Im Gegenteil, immer noch
flankiert von Ted Humphries und Max Albion, machte er einen
Schritt auf sie zu, den Blick starr auf sie geheftet. Doch als
Caroline sein Starren erwiderte, war es nicht Wut, die sie in
seinen Augen sah, oder Kummer oder irgendeine andere
Regung.
Was sie sah, war eine schreckliche Leere, und in dem
Bruchteil einer Sekunde, als ihre Blicke sich trafen, entdeckte
sie die Wahrheit.
Anthony Fleming – der Mann, den sie geheiratet hatte – war
nicht real.
Alles, was sie gesehen hatte – was er ihr gezeigt hatte – war
eine Lüge.
Sein Äußeres, das dichte Haar, die fein gemeißelten Züge,
die makellose Haut, all das war nichts als Fassade. Und sie
hätte es wissen müssen. In jener Nacht, als Tony das Bett
verlassen, und Laurie ihre erste Periode bekommen hatte, war
ihr, als sie beide schließlich wieder im Bett gelegen hatten,
etwas komisch vorgekommen. Er hatte so fahl ausgesehen, so
ungesund.
Aber es waren nicht nur diese Äußerlichkeiten, auch die
Liebe, die Zuneigung, die Sorge um ihr Wohlergehen und das
der Kinder: Nichts von alledem war je wirklich real gewesen.
Und jetzt begriff sie: Alles, was Anthony Fleming und die
anderen je von ihr gewollt hatten, waren ihre Kinder.
»Was macht ihr da?«, fragte sie mit atemloser Stimme,
obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Begreifst du denn nicht?«, gab Tony zurück. »Wir brauchen
sie. Die Kinder erhalten uns am Leben.«
Jetzt war das Bild komplett: das Essen, die Naschereien für
die Kinder. Gerade so, als mästete man Lämmer, ehe man sie
schlachtete.
Unwillentlich wanderte ihr Blick zu Helena Kensington, und
als sie die Augen dieser Frau, die noch vor wenigen Tagen
blind gewesen war, genauer betrachtete, erkannte sie sie
wieder.
Rebecca Mayhews Augen!
Als Anthony Fleming sie packte, und seine Finger ihr
Fleisch umklammerten, brach ein Schrei aus ihrer Kehle.
Sie hatte mit ihm geschlafen – ihn geliebt! Aber er war nicht
real.
Er lebte überhaupt nicht.
Keiner von denen. Alle, ihr Mann und die anderen Bewohner
dieses Hauses, waren Leichen.
Leichen, die in der Stadt umhergingen und nach Kindern
suchten, die ihre Körperfunktionen aufrechterhielten.
Auf einmal mischte sich eine unsägliche Wut in den
Entsetzensschrei, der immer mehr anschwoll. Gleichzeitig
spürte sie, wie Dr. Humphries ihr eine Injektionsnadel in den
Arm stach. Während er langsam den Spritzenkolben nach
unten drückte, erstarb der Schrei auf ihren Lippen, die Beine
gaben unter ihr nach, und die Schwärze der Bewusstlosigkeit
ersparte ihr – wenigstens für eine Weile – das Entsetzen über
die schreckliche Wahrheit, die sie soeben entdeckt hatte.

33. Kapitel
    Ryan hatte versucht – sich wirklich bemüht – seiner Mutter zu
gehorchen. Doch kaum hatte sie sein Zimmer verlassen, hatte
er unwillkürlich angefangen zu überlegen, was passieren
könnte.
    Was sie tun würde.
Was sie finden würde.
Deshalb hatte er nicht im Bett bleiben können, sondern war
    aufgestanden, in seinen Lieblingsbademantel gehüllt, den, den
sein Vater ihm geschenkt hatte – sein richtiger Vater. Er war
ihm inzwischen zu klein geworden; die Arme ragten weit aus
den Ärmeln hervor, und er spannte um die Schultern, aber das
störte ihn nicht. Er mochte ihn trotzdem viel lieber als den
neuen Bademantel, den Tony ihm vor ihrer Reise nach
Mustique mitgebracht hatte. Anschließend war er zur Tür
gegangen und hatte gelauscht. Nichts. Dann hatte er sie einen
Spalt weit aufgemacht, in den Flur gespäht und als er sicher
war, dass dort niemand war, war er zurück ins Zimmer
gegangen, hatte Chloe erklärt, dass sie hier auf in warten sollte,
und war ans Ende der Treppe gelaufen.
    Unter der Tür zum Arbeitszimmer sah er Licht, das ihn
anzog wie ein Magnet. Doch als er wenig später vor besagter
Tür stand, wusste er nicht, was er als Nächstes tun sollte.
    Klopfen und seine Mom rufen? Eigentlich sollte er ja im Bett
liegen, und wenn

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