Mitternachtsstimmen
stand.
Diesmal erinnerte sie sich, welcher Schlüssel der richtige
war. Sie schloss auf und betrat zum zweiten Mal den
verbotenen Raum. Sie knipste das Licht an und sah sich um.
Nichts hatte sich seit dem letzten Mal verändert.
Aber auch keine Spur von ihrer Tochter.
Oder von Tony.
Und als sie so ratlos in der Tür stand und in den leeren Raum
starrte, hörte sie etwas.
Ein Geräusch, so leise und gedämpft, dass sie nicht sicher
war, es überhaupt gehört zu haben. Doch es lockte sie weiter in
das Arbeitszimmer hinein.
Sie stand nahe beim Schreibtisch, als sie es abermals hörte,
und diesmal konnte sie ausmachen, woher das Geräusch kam:
von der Tür in der Ecke der Wand, wo sich auch der Kamin
befand. Sie trat näher an die Tür und lauschte nochmals.
Stimmen. Stimmen, die Worte murmelten, die sie nicht
verstand.
Sie versuchte die Tür zu öffnen. Verschlossen.
Verschlossen wie Lauries Tür und die Tür zum
Arbeitszimmer. Doch dieses Schloss ließ sich von demselben
Schlüssel öffnen wie auch die Tür zum Arbeitszimmer. Sie zog
die Tür auf.
Ein Schrank! Ein gewöhnlicher, mit Zedernholz furnierter
Schrank, dessen strenger Geruch ihr sofort in die Nase stieg.
Als sie glaubte, jeden Moment niesen zu müssen, hörte sie die
Stimmen wieder – lauter diesmal – und presste einen Finger
fest auf die Unterlippe, um das Niesen zu unterdrücken.
Caroline hielt das Ohr ganz dicht an die Rückwand des
Schranks und versuchte, aus den unzusammenhängenden
Lauten Worte herauszuhören. Als ihre Finger dabei
eigenmächtig über das Furnier glitten, spürte sie etwas: eine
winzige Aussparung, gerade breit genug, um die Fingerspitze
darin einzuhaken. Unbewusst hielt sie den Atem an, als sie
daran zog.
Hatte sich die Rückwand ein klein wenig bewegt, oder hatte
sie sich das nur eingebildet?
Sie versuchte es noch einmal, drückte diesmal mit der freien
Hand dagegen und spürte deutlich, wie die Wand sich bewegte,
nach rechts wegglitt und in einer unsichtbaren Nische
verschwand.
Einen Moment lang stand sie da wie angenagelt und traute
ihren Augen nicht.
Sie sah in einen düsteren Raum – nicht sehr groß, aber
geräumig genug für einen langen Tisch. Um diesen Tisch
herum saßen beinahe ein Dutzend Leute, die plötzlich
verstummt waren und sie ebenso entgeistert anstarrten wie sie
sie.
Caroline kannte jede einzelne Person. Max und Alicia
Albion waren da, zusammen mit Irene Delamond und ihrer
Schwester Lavinia. An der anderen Tischseite saßen Tildie
Parnova, George Burton und Helena Kensington. Und obwohl
sie sie alle erkannte, wurde ihr bewusst, dass etwas an ihnen
anders war.
Irgendetwas hatte sich verändert.
Und plötzlich erkannte sie, was es war: Die ältesten der
Frauen sahen viel jünger aus als sie waren. Ihre Augen lagen
nicht mehr so tief in den Höhlen, und die Altersflecken waren
verschwunden.
Ihr Haar wirkte voller und glänzte viel seidiger als zuvor.
Carolines Blick wanderte ein Stück weiter, und jetzt sah sie
ihren Mann am Ende des Tischs stehen. Er fixierte sie, seine
Augen glühten vor Zorn, und an seinem Hals pulsierte eine
Vene. Dann trat er einen Schritt zur Seite und gab den Blick
auf die Gestalt frei, die auf dem Tisch lag.
Ihre Tochter, nackt, ihr kleiner Körper blass.
Und überall steckten Schläuche: in Lauries Nase, ihrem
Mund, den Ohren.
Wo keine Schläuche waren, steckten Nadeln, an denen
Schläuche befestigt waren.
Und Pumpen – für jeden Schlauch eine Pumpe. Und jedes
Ende dieser Schläuche führte zu einer der Frauen, die ihre
Nachbarinnen waren.
Die Frauen, die sie und ihre Kinder im Rockwell
willkommen geheißen hatten.
Die ihnen Leckerbissen gebracht und die Laurie und Ryan
verwöhnt hatten, als wären sie ihre eigenen Enkelkinder.
Und plötzlich, als sie Melanie Shackleforth anschaute,
dämmerte ihr die Wahrheit. Das war überhaupt nicht Melanie.
Sondern Virginia Estherbrook, die genauso aussah wie damals,
vor einem halben Jahrhundert, als sie ihr Debüt als Julia
gegeben und dieselbe Rolle gespielt hatte wie Faith Blaine
vierzig Jahre davor.
Dann kam Tony, flankiert von Dr. Humphries auf der einen
Seite und Max Albion auf der anderen, auf sie zu. Ein winziger
Teil von ihr wollte sich umdrehen und diesem Albtraum
entfliehen, zurück durch diesen Schrank und das Arbeitszimmer hinaus in den Flur, aus der Wohnung und hinunter auf
die Straße rennen.
Doch ein viel stärkerer Instinkt trachtete danach, ihr Kind zu
beschützen, und mit
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