Mitternachtsstimmen
sie ihn erwischte, würde sie wahrscheinlich
böse auf ihn sein. Und wenn Tony ihn erwischte …
Er presste das Ohr an die Tür und horchte.
Stille.
Eine Stille, so tief, dass ihm noch mulmiger wurde.
Seinen ganzen Mut zusammennehmend, legte er die Hand an
den Türknopf und drehte ihn aus Angst, das Geräusch könnte
ihn verraten, ganz langsam und vorsichtig um. Nach, wie es
ihm vorkam, einer Ewigkeit rastete der Bolzen plötzlich mit
einem so lauten Geräusch ein, dass Ryan um ein Haar wieder
in sein Zimmer zurückgerannt wäre. Doch als nichts passierte,
drückte er die Tür einen Spalt weit auf und warf einen Blick ins
Arbeitszimmer.
Nichts.
Nun schob er die Tür ganz auf und schlüpfte hinein. Seine
Mutter war nirgends zu sehen. Doch er hörte etwas – die
gleichen Geräusche, die er auch durch die Wand in seinem
Zimmer gehört hatte. Nur waren sie jetzt lauter. Noch einmal
sah er sich in dem Zimmer um, und da fiel ihm die offene
Schranktür auf.
Kamen die Geräusche von dort?
Er ging schon auf den Schrank zu, hielt aber inne, als die
Laute plötzlich verstummten. Und dann, gerade als er
überlegte, was er tun sollte, wurde die Stille von einem
gellenden Schrei zerrissen.
Es war ein Schrei, nicht von dieser Welt, der wie ein
Beilhieb in Ryans Bewusstsein schlug. Geschockt von diesem
Schrei wirbelte er herum, verließ fluchtartig das Arbeitszimmer, flog geradezu die Treppe hinauf und rannte in sein
Zimmer. Dort warf er sich auf sein Bett und nahm Chloe so
fest in den Arm, dass der kleine Hund aufjaulte und sich
freistrampeln wollte. Eine ganze Zeit lang hockte er mit dem
Hund im Arm auf dem Bett, sein Herz raste, und er konnte vor
lauter Schreck kaum richtig atmen. Immer wieder gellte dieser
Schrei durch seinen Kopf und ließ sich, trotzdem er es mit aller
Kraft versuchte, nicht zum Schweigen bringen. Und irgendwo
ganz tief in seinem Inneren wusste er, wer da geschrien hatte.
Seine Mutter.
Es war die Stimme seiner Mutter, die er hatte schreien hören,
die seine Angst, die er im Moment verspürte, bei weitem
übertraf. Aber was konnte sie entdeckt haben? Was könnte so
Schreckliches in dem Schrank gewesen sein, dass sie diesen
unmenschlichen Schrei hatte ausstoßen müssen, der sich tief in
sein Bewusstsein gebrannt hatte?
Furcht einflößender als dieser Schrei war für Ryan jedoch
die unbekannte Macht, die ihn so abrupt hatte verstummen
lassen, dass er beinahe glaubte, die ganze Sache nur geträumt
zu haben.
Beinahe, aber nicht ganz.
Jetzt lauschte er der Stille. Und diese Stille, die jetzt über der
Wohnung lag, war beinahe schlimmer als der Schrei selbst und
viel schlimmer als das Schweigen, das diesem schrecklichen
Moment gefolgt war, als seine Mutter ihm gesagt hatte, er
sollte im Zimmer bleiben, und ihn dann verlassen hatte.
Und noch viel grausamer als diese Stille war das entsetzliche
Gefühl tief in seinem Inneren, dass seine Mutter weggegangen
sein könnte. Brennende Tränen standen ihm in den Augen, die
er tapfer wegzublinzeln versuchte, aber am Ende liefen die
Augen einfach über, und die Tränen rollten ihm über die
Wangen. »Mom? Bitte, geh nicht fort. Bitte, lass mich nicht
allein.« Ein Schluchzer unterbrach sein flehendes Flüstern.
Und als ein zweiter ihm die Kehle hochstieg, und Chloe
begann, ihm die Tränen von der Wange zu lecken, hörte er eine
Stimme, die aus den Tiefen seiner Erinnerung in sein
Bewusstsein drang.
»Weinen hilft da nicht, mein Sohn. Du musst die Zähne
gegen den Schmerz zusammenbeißen, aufstehen und
weiterspielen.«
Er konnte sich noch ganz genau an den Tag erinnern, als sein
Vater ihm beim Baseballspielen zugeschaut und das
eingeschärft hatte. Ryan war beim Rennen vom dritten zum
Heim-Mal gestolpert, der Länge nach mit dem Gesicht auf dem
harten Boden aufgeschlagen, hatte sich die Wange aufgeschürft
und aus der Nase geblutet. Es hatte so wehgetan, dass er
glaubte, es nicht aushaken zu können, doch dann war sein
Vater bei ihm gewesen, hatte ihn aufgehoben und wieder auf
die Füße gestellt. Während er ihm mit einem Taschentuch das
Blut abtupfte, hatte er ganz leise, dass niemand anderer es
hören konnte, mit ihm gesprochen. Und an jenem Tag hatte
Ryan auf ihn gehört, hatte aufgehört zu weinen, die Schmerzen
in der Nase und die brennenden Schürfwunden auf der Wange
ignoriert und weitergespielt.
Und hatte drei Runs gemacht.
Jetzt beherzigte er die Worte seines Vaters abermals, hörte
auf zu weinen und schwang
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