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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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die Hand auf die
Schulter. »Ist ja gut, meine Liebe. Wir waren in der Nacht nur
etwas aufgeregt und wollen doch nicht aus dem Bett fallen,
nicht wahr?«
Aufgeregt? Aus dem Bett fallen? Was meinte die Schwester
damit? Doch noch ehe sie die Frage formuliert hatte, ahnte sie
schon die Antwort.
Fixiert!
Sie war am Bett festgebunden wie die Patienten in der
Irrenanstalt!
Aber das war ein Irrtum – sie war doch gar nicht verrückt!
Ja, sie war nicht einmal krank! Sie hatte nur einen fürchterlichen Albtraum gehabt. Sie hatte Tony gesehen, und was er
und die Nachbarn mit ihrer Tochter gemacht hatten und –
Ein Bild explodierte in ihrem Bewusstsein – wie Tony,
flankiert von Dr. Humphries und Max Albion, auf sie
zukommt. Wie sie sich auf ihn stürzt und ihm das Gesicht
zerkratzt. Wie die Haut aufplatzt, und darunter …
Plötzlich stieg ihr wieder der Geruch des Todes in die Nase,
und vor ihren Augen erstand das Bild von Tonys verwesendem,
eiterndem und stinkendem Fleisch. Sie würgte und spürte den
Geschmack von Galle auf der Zunge.
»Ist gut, meine Liebe«, sagte die Schwester, als sich
Carolines Magen zusammenkrampfte und sie sich in hohem
Bogen erbrach. »Das sind nur die Medikamente. Das kommt
manchmal vor. Aber in ein, zwei Tagen sind Sie wieder
wohlauf, glauben Sie mir.«
Als Carolines Magen sich abermals verkrampfte, ihr die
Tränen in die Augen schossen, und ihre Angst, Verwirrung und
Frustration in einem gewaltigen Schluchzer aus ihr herausbrachen, begann die Schwester, das Erbrochene mit einem
feuchten Tuch wegzuwischen. Dann bezog sie das Kopfkissen
und die Bettdecke frisch.
Nachdem sie gegangen war, lag Caroline wieder allein in
dem Zimmer mit der grünen Bambustapete, den saueren
Geruch ihres Erbrochenen in der Nase und ein Gefühl im
Magen, als müsste sie sich gleich wieder übergeben.
Aber es waren nicht die Medikamente, die das verursacht
hatten.
Es waren die Erinnerungen.
Die Erinnerungen an das, was sie letzte Nacht gesehen hatte.
Erinnerungen, die keinem Albtraum entstammten.
Alles – jede einzelne Begebenheit – war wirklich passiert.
Und jetzt hatten sie sie eingesperrt, und sie hatte keine
Ahnung, wo sie war und wie sie hier rauskäme.
Und Tony Fleming hatte ihre Kinder.
Raus! Sie musste hier raus, musste zu ihren Kindern, musste
sie retten! Ihre Panik verwandelte sich in eine heillose Wut,
und sie zerrte wie besessen an den Fesseln, was so schmerzhaft
wie vergeblich war.
Sie konnte sich nicht bewegen, sich und ihren Kindern nicht
helfen.
Weder seine Angst noch seine Entschlossenheit hatten Ryan
die langen Nachtstunden hindurch wach halten können, das
Einschlafen jedoch so lange hinausgezögert, dass er, als er
aufwachte, instinktiv wusste, dass es später Vormittag sein
musste. Doch kaum war er aus dem Bett gekrochen und hatte
den Schlaf abgeschüttelt, brach der Schrecken der vergangenen
Nacht wieder über ihn herein. Ihm wurde eiskalt, als ihm
einfiel, was er durch den Schrank im Arbeitszimmer seines
Stiefvaters gehört hatte, und er begann zu zittern, als der Schrei
seiner Mutter ihm erneut in den Ohren hallte. Die Erinnerung
ließ ihm die Tränen in die Augen schießen, und am liebsten
hätte er sich in die warme Sicherheit seines Betts geflüchtet,
doch dann hörte er auf einmal die Stimme seines Vaters: Weinen hilft da nicht… aufstehen … und weiterspielen.
Angetrieben von der Erinnerung an seinen Vater zog Ryan
sich an und ging zur Tür. Dort blieb er stehen und starrte eine
Weile versonnen den Türknauf an, während ihm Dutzende von
Fragen, auf die er keine Antwort wusste, durch den Kopf
spukten. Warum hatte seine Mutter gestern Nacht so
geschrien? Und warum hatte sie ihn heute Morgen nicht
geweckt? Auch wenn er nicht zur Schule gehen durfte, hätte sie
ihn auf keinen Fall so lange schlafen lassen. Was, wenn seine
Mutter nun gar nicht da wäre? Wenn Tony gestern Abend die
Tür abgeschlossen hätte und er nicht herauskönnte? Wenn …?
Es waren einfach zu viele Wenns, und schließlich ergriff er
den Knauf und drehte ihn.
Die Tür war nicht abgeschlossen.
Er zog sie auf und trat hinaus in den Flur.
Stille.
Wie ein Indianer schlich er sich vor bis zur Treppe. Auf dem
Absatz blieb er stehen, lauschte, hörte aber nichts als das
Ticken der Wanduhr unten in der Diele, sie klagend jede
verstrichene Sekunde zählte. Mit jeder Stufe, die er nahm,
wurde das Ticken der Uhr lauter. Auf der letzten Stufe blieb er
wieder stehen, doch jetzt

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