Mitternachtsstimmen
schien die Uhr so laut zu ticken, dass
sie jeden anderen Laut übertönte. Und plötzlich roch es nach
gebratenem Speck, und seine Angst verschwand. Alles war in
Ordnung! Seine Mutter machte das Frühstück, und gleich
würde er am Küchentisch sitzen, seinen Orangensaft trinken,
und alles würde so sein wie immer. »Mo–«, begann er, doch
der Rest erstarb auf seinen Lippen, noch ehe er die einzelne
Silbe hatte aussprechen können.
Es war nicht seine Mutter, die am Herd stand.
Es war Tony.
»Wo ist meine Mutter?«, wollte er wissen, seine Stimme so
düster wie seine Miene, als er seinen Stiefvater fixierte.
Anthony Fleming sah von der Pfanne hoch; ihre Blicke
trafen sich. Ryan gab sich alle Mühe, nicht wegzusehen, doch
als er in Tonys Augen starrte, überkam ihn plötzlich ein ganz
komisches Gefühl. Das hier war keiner dieser StarrWettbewerbe, wie er sie mit seinen Freunden ausgetragen
hatte, oder auch mit seinem Vater, wo beide wussten, dass es
ein Spiel war, und sie hinter dem intensiven Starren bereits das
Lachen sehen konnten, in das sie gleich ausbrechen würden,
wenn einer von ihnen schließlich als Erster blinzelte.
Was Ryan sah, war nur eine abgrundtiefe Leere, und dazu
fiel ihm nur ein einziges Wort ein.
Tot.
Wie dieser Hund, den er und Jeff Wheeler letzten Sommer
im Park gesehen hatten – der versucht hatte, die 79. Straße zu
überqueren und von einem Taxi erwischt worden war. Der
Hund hatte vor Schmerzen gejault, doch der Taxifahrer hatte
nicht einmal angehalten, und der arme Hund war noch von
zwei anderen Autos überrollt worden, ehe eine Lücke im
Verkehrsstrom es ihm und Jeff erlaubt hatte, den Hund von der
Straße ins Gras zu ziehen. Aber es war zu spät gewesen – der
Hund atmete nicht mehr, Blut rann aus seinem Maul, und er
rührte sich nicht mehr.
»Mann, ist er tot?«, hatte Jeff gewispert, als sie beide vor
dem Hund standen und ihn anstarrten. Seine Augen standen
weit offen, doch der Ausdruck darin gab Ryan die Antwort,
und er nickte stumm.
Und jetzt sah er denselben Ausdruck in den Augen seines
Stiefvaters. Leblos und leer, als könnte er Ryan gar nicht
sehen, und das ängstigte Ryan so sehr, dass er sich abwandte,
auf seinen Stuhl sank und nach dem Glas Orangensaft griff, das
genau an der Stelle stand, wo es seine Mutter immer hinstellte.
Er wollte einen Schluck davon trinken, überlegte es sich aber
anders, weil er wusste, dass er ihn nicht herunterbrächte. Als er
wieder sprach, war die Aufsässigkeit aus seiner Stimme
verschwunden, und sein Blick auf das Glas geheftet.
»Wo ist meine Mom?«, fragte er noch einmal. »Und wo sind
Chloe und Laurie?«
Anthony Fleming stellte einen Teller mit Eiern und Speck
vor Ryan hin und nahm dann ihm gegenüber Platz. »Laurie ist
in der Schule«, sagte er. Er griff über den Tisch, um Ryans
Hand zu nehmen, doch der zog sie rasch zurück und ließ sie
auf seinen Schoß fallen. »Und deiner Mutter ist es gestern
Abend leider schlechter gegangen.«
Lügner! schoss es Ryan so plötzlich durch den Kopf, dass er
das Wort beinahe laut ausgesprochen und sich verraten hätte. »… weiterspielen …« , flüsterte ihm seines Vaters Stimme zu.
Er sah auf und zwang sich, Tony Fleming noch einmal in die
Augen zu schauen. »Sie … sie wird doch wieder gesund, ja?«,
fragte er und hoffte, dass sein Gestammel sich für Tony nicht
auch so gekünstelt anhörte wie für ihn.
Tony nickte. »Aber sie musste ins Krankenhaus eingeliefert
werden.«
Ryan sah Tony weiterhin in die Augen, forschte nach der
Wahrheit, konnte aber nichts sehen – außer dieser seltsamen
Leere. Und irgendwas stimmte nicht mit der Haut seines
Stiefvaters. Es sah aus, als hätte er Kratzer im Gesicht. Aber
die waren gestern noch nicht da gewesen. »Kann ich sie
besuchen?«, fragte er mit bebender Stimme.
»Heute nicht«, entgegnete Tony ein bisschen zu schnell.
»Morgen vielleicht.«
»Was hat sie denn? Ich dachte, es wäre nur eine Grippe.«
Anthony kniff die Augen zusammen. »Eine Grippe kann
sehr gefährlich werden«, erklärte er ernst. Dann deutete er mit
dem Kinn auf den unberührten Teller. »Iss dein Frühstück.«
»Ich habe keinen Hunger«, gab Ryan zurück. Und
wiederholte die Frage, die Tony ihm noch nicht beantwortet
hatte. »Wo ist Chloe? Sie war gestern Nacht noch in meinem
Zimmer, und heute Morgen war sie weg.«
Tony richtete seinen leeren Blick auf Ryan. »Ich habe sie
heute Morgen ausgeführt, und da ist sie mir
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