Mitternachtsstimmen
Augen. Nicht in meinem Bett. Nicht in
meinem Schlafzimmer.
Sie schloss die Augen, vollauf damit beschäftigt, die
Eindrücke zu verarbeiten, die ihre Sehzellen soeben an ihr
Gehirn gesandt hatten. Wie in Zeitlupe nahm ein Bild in ihrem
Bewusstsein Gestalt an, das Bild des winzigen Schlafzimmers,
das sie und Brad in der Wohnung an der 76. Straße geteilt
hatten.
Aber das war es nicht – es gab noch eine andere Erinnerung
an ein anderes Schlafzimmer, ein riesiges Schlafzimmer mit
einem Kristalllüster. Und plötzlich ergab die vage Erinnerung
ein deutliches Bild. Tonys Schlafzimmer … das Schlafzimmer
ihres Mannes, des Mannes, den sie nach Brad geheiratet hatte.
Brad …
Ein schreckliches Gefühl von Einsamkeit überfiel sie, ein
Brennen in ihrem Herzen, das ihr die Tränen in die Augen
trieb. Wo war Brad? Brad war der Mann, den sie geliebt hatte.
Warum hatte sie dann Tony geheiratet?
Wo war Tony?
… tot …
Steh auf.
… tot …
Laurie!
Steh auf!
Noch einmal versuchte sie mit aller Kraft, sich zu einer
logischen Handlung zu zwingen, ihren Körper dazu zu bringen,
auf die Signale aus ihrem Gehirn zu reagieren. Sie machte die
Augen wieder auf, besah sich die Wände. Sie waren tapeziert,
mit einer hellgrünen gemusterten Tapete. Bambus?
Sie war sich nicht sicher.
Aber wo befand sie sich?
In einem Hotel? Aber warum in einem Hotel? Warum war
sie nicht zu Hause?
Sie versuchte sich aufzusetzen.
Versuchte es und scheiterte. Es war, als würde sie ein noch
schwereres Gewicht auf die Matratze drücken. Sie holte Luft,
sog diesmal den Atem tief in die Lungen, um sich mit
Sauerstoff zu stärken. Die Anstrengung erschöpfte sie, und die
Schmerzen in der Brust – als schnürten Eisenbänder ihren
Brustkorb zusammen – wurden stärker. Sie keuchte gegen die
Enge an, rang nach Luft, dann drehte sie den Kopf zur Seite,
um auf den Wecker auf dem Nachttisch zu sehen.
Kein Wecker. Kein Nachttisch. Nicht mein Bett … nicht
mein Zimmer …wo bin ich?
Abermals versuchte sie sich aufzusetzen, nahm diesmal die
Arme zu Hilfe, um sich abzustützen.
Und wieder schlug der Versuch fehl. Ihre Arme, die seitlich
an ihrem Körper lagen, ließen sich nicht bewegen.
Gelähmt! Das Wort brannte sich in ihr Bewusstsein, und im
nächsten Moment schwappte eine Welle von Panik über sie
hinweg, schwemmte jeden vernünftigen Gedanken aus ihrem
Bewusstsein und drohte, ihr nicht nur den Mut, sondern auch
den gesunden Menschenverstand zu rauben.
»Neiiin!«, brach es in einem anhaltenden gellenden Schrei
aus ihr heraus, der mit seiner verzweifelten Kraft ihre Panik
zurückdrängte. Und als die Angst sich ein wenig gelegt hatte,
begann ihr Verstand wieder zu arbeiten. Die Wortfetzen fügten
sich allmählich zu ganzen Gedanken zusammen, bruchstückhafte Erinnerungen zu erinnerbaren Bildern. Doch woran sie
sich erinnerte, musste ein Albtraum sein – denn das konnte
unmöglich wahr sein!
Eine Tür ging auf, und einen Moment später tauchte ein
Gesicht – das Gesicht einer Frau unter einer altmodischen
Schwesternhaube, wie sie sie aus ihren Kindertagen kannte –
über ihr auf. Die Augen waren von einem wässrigen Braun, die
Lippen sorgenvoll zusammengekniffen. Caroline spürte die
Finger der Schwester an ihrem Handgelenk und sah sie auf die
Armbanduhr blicken, während sie ihren Puls zählte. Kurz
darauf gab sie mit einem zufriedenen Nicken ihren Arm frei.
»Wie geht es Ihnen? Besser?«
Caroline suchte nach den richtigen Worten, konnte aber
keine finden. Was war »besser«? Besser als was? War sie
krank? Sie konnte sich nicht erinnern, krank gewesen zu sein.
Sie erinnerte sich nur an diesen Traum – diesen schrecklichen
Albtraum, wo sie Laurie und die Nachbarn und Tony gesehen
hatte –
»W-was …?«, hörte sie sich stammeln. »W-wo …?« Aber
das hatte sie gar nicht sagen wollen. Sie wollte wissen, was
passiert war, wo sie sich befand, nur wollten sich die
entsprechenden Worte in ihrem Mund nicht so formen.
Doch die Krankenschwester schien sie trotzdem zu
verstehen. »Wir sind im Krankenhaus«, sagte sie. »Wir hatten
einen kleinen –« Sie zögerte kurz und lächelte dann freundlich.
»Wir sind nur ein wenig erschöpft, meine Liebe. In ein paar
Tagen werden wir wieder auf dem Damm sein – Sie werden
schon sehen.«
Krankenhaus? Welches Krankenhaus? »K-kann ich nicht –«,
begann Caroline und versuchte noch einmal sich aufzusetzen.
Wieder vergebens.
Die Schwester legte ihr besänftigend
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