Mitternachtsstimmen
weggelaufen.«
»Das würde sie nie tun«, erwiderte Ryan trotzig.
Sein Stiefvater schien seinen Einwand überhört zu haben.
»Iss jetzt dein Frühstück.«
»Ich muss das nicht essen«, brauste Ryan auf. »Und
überhaupt, woher soll ich wissen, dass es nicht –«
Er hielt gerade noch inne, ehe das Wort »vergiftet« über
seine Lippen kam, aber es war zu spät: Tonys Blick sagte ihm,
dass er genau wusste, was er hatte sagen wollen.
Er streckte die Hand aus und packte Ryan am Oberarm.
»Wie kommst du auf die Idee, dass ich dich vergiften will,
Ryan?«
Der drohende Unterton seiner leisen Stimme ängstigte Ryan
so, dass er zurückweichen wollte, doch der Griff seines
Stiefvaters war fest, seine Finger gruben sich tief in sein
Fleisch.
»Das … das habe ich gar nicht gesagt«, wehrte Ryan ab, und
diesmal war sein Stammeln echt.
»Aber gedacht hast du es«, beharrte Tony. »Warum?« Jetzt
bohrte sich der Blick seines Stiefvaters so tief in seine Augen,
dass Ryan glaubte, er könnte direkt in seinen Kopf
hineinschauen. »Hast du wirklich geschlafen, als ich heute
Nacht in dein Zimmer kam, Ryan?«
Ryan nickte zu schnell und konnte auch seine Antwort nicht
mehr zurückhalten. »Ich habe nichts gesehen! Ehrlich!«
»Du sagst mir nicht die Wahrheit«, erklärte Anthony
Fleming, seine Stimme so kalt und leblos wie sein Blick. »Das
gefällt mir nicht.«
»Doch!«, jammerte Ryan, der die Lüge deutlich aus seiner
Stimme heraushörte.
Fleming zog Ryan auf die Füße und manövrierte ihn aus der
Küche, die Treppe hinauf in sein Zimmer. »Ich denke, du
solltest eine Weile auf deinem Zimmer bleiben«, sagte er.
»Genauer gesagt so lange, bis du gelernt hast, die Wahrheit zu
sagen. Gegen Mittag bin ich wieder zurück. Wenn du bereit
bist, mit mir zu sprechen, bekommst du etwas zu essen. Wenn
nicht …« Tony ließ die unausgesprochene Drohung in der Luft
hängen, zog die Tür hinter sich zu und sperrte ab. Um
sicherzugehen, drehte er den Knauf, und als dieser sich nicht
bewegte, ließ er den Schlüssel in seine Tasche gleiten.
Ryan wartete ab, bis sich die Schritte seines Stiefvaters entfernt
hatten, ehe er zur Tür schlich und probierte, ob sie sich öffnen
ließ. Anschließend ging er ans Fenster, legte den Riegel um
und schob es hoch. Allein schon beim Blick aus dem sechsten
Stock hinunter auf die Straße wurde ihm schwindlig und er
musste einsehen, dass er es nicht schaffen würde, auf dem
schmalen Mauersims unter seinem Fenster zum nächsten
Zimmer zu klettern, selbst wenn er den Mut zu diesem
waghalsigen Unternehmen aufbrächte. Dennoch musste es eine
Möglichkeit geben, aus diesem Zimmer zu entwischen –
unbedingt!
Es zog ihn in den großen begehbaren Kleiderschrank. Dort
besah er sich die Decke, die jedoch mit den gleichen
Zedernholzpaneelen verkleidet war wie der übrige Schrank.
Gerade als er ihn wieder verlassen wollte, erinnerte er sich an
den gestrigen Abend, als er im Arbeitszimmer seines
Stiefvaters gewesen war und die offene Schranktür gesehen
hatte.
Und an die Stimmen, die sich angehört hatten, als kämen sie
aus diesem Schrank.
Oder aus einem geheimen Raum hinter dem Schrank?
Er ging noch einmal zurück in den Schrank. Auf der einen
Seite befand sich eine eingebaute Kommode mit Schubladen;
auf der anderen offene Regale. Die Rückseite des Schranks
bestand aus Zedernplatten. Doch als er an die Rückwand
klopfte, gab es einen hohlen Klang, so als befände sich hinter
der Rückwand keine solide Mauer, sondern ein Hohlraum.
Aufgeregt untersuchte Ryan jeden Zentimeter der
Rückwand, hoffte einen versteckten Hebel oder sonst etwas zu
finden, doch ohne Erfolg.
Als Nächstes zog er jede Lade der Einbaukommode auf und
prüfte die Rückseite. Nichts.
Dann wandte er sich den Regalen zu, doch auch hier wurde
er nicht fündig. Und schließlich, als ihm nichts anderes mehr
einfiel, kletterte er die Regale hoch, benutzte die Bretter als
Leiter, bis er die Decke erreichen konnte.
Er drückte dagegen. Zunächst passierte nichts, doch als er
mehr Kraft aufwendete, spürte er etwas nachgeben. Daraufhin
legte er sich flach auf das oberste Brett, um einen besseren
Hebel zu haben, und versuchte es noch einmal mit aller Kraft.
Diesmal hörte er ein quietschendes Geräusch, als sich erst ein
Nagel löste, dann ein zweiter. Im Stillen betend, dass das
Geräusch nicht lauter würde, drückte Ryan noch fester,
dadurch lösten sich noch weitere Nägel, und jetzt ließ sich eine
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