Mitternachtsstimmen
Pyramide unter ihm zusammenkrachte?
Nachdem er sich mit einem tiefen Atemzug gewappnet hatte,
schob er sich vorsichtig mit dem Bauch auf die oberste Tonne,
zog das rechte Knie unter seinen Körper und dann das linke.
Nach einem weiteren tiefen Atemzug hob er das rechte Knie
an, stellte den Fuß auf die Tonne und wartete, bis er sein
Gleichgewicht gefunden hatte. Nun richtete er sich auf, stand
mit beiden Füßen auf der Tonne, die Hände an der Wand
abgestützt. Die Pyramide schwankte bedenklich, fiel aber nicht
um.
Ryan griff in die Höhe, bekam die unterste Sprosse zu fassen
und war keine zwei Minuten später oben auf dem Dach des
Apartmenthauses.
Zwischen diesem Dach und dem nächsten gab es überhaupt
keinen Zwischenraum. Er musste nur über die beiden niedrigen
Brüstungen klettern und war beinahe am Ziel.
Er fand die Tür zum Treppenhaus – eine altmodische Tür,
aber mit einem Schloss, das sich von den Schlössern im
Rockwell unterschied. Er war nicht überrascht, die Tür
versperrt zu finden und zog den Schlüsselbund aus der Tasche.
Als keiner der Schlüssel passte, sank ihm der Mut. Doch
dann, während er die Tür anstarrte – sie zwingen wollte, sich
zu öffnen, obwohl er wusste, dass sie abgesperrt war –, fiel ihm
plötzlich eine Stelle am Türrahmen auf, wo die Farbe
abblätterte und das Holz darunter splitterte. Er zog sein Messer
aus der Tasche und machte sich an die Arbeit. Das Holz, das
seit Jahrzehnten der Witterung ausgesetzt war, splitterte nicht
nur, es war regelrecht verfault. Je tiefer er die Klinge
hineintrieb, desto weicher wurde das Holz, und eine
Viertelstunde später war er im Inneren des Hauses. Aber wie
fand er jetzt seine Mutter?
Vom Dach aus führte eine steile Treppe zu einem Absatz,
und von dort ein Treppenhaus bis hinunter ins Erdgeschoss.
Er machte sich auf den Weg, und im nächsten Stockwerk
fand er eine Tür, die sich in einen langen, von trüben
Wandleuchten erhellten Korridor öffnete. Er lauschte kurz,
hörte nichts und lief rasch durch den mit Teppichen
ausgelegten Flur.
Ein Dutzend Türen zweigte von dem Flur ab, alle mit einem
kleinen Metallrahmen versehen wie die altmodischen Schreibtische und Kommoden in dem Laden, in dem seine Mutter
arbeitete. Da hinein konnte man kleine beschriftete Kärtchen
stecken, damit man wusste, was sich in den Schubladen befand.
Doch an den Türen hier steckten keine Kärtchen, und
schließlich probierte Ryan eine der Türen. Sie war unversperrt.
Ryan schaute hinein. Von der Straße fiel genügend Licht in den
Raum, dass er ein Krankenbett, einen Tisch und eine
Kommode erkennen konnte. Doch das Bett war leer, und auf
dem Tisch stand auch nichts.
Rasch ging er weiter, um einen Blick in die anderen Zimmer
zu werfen.
Sie waren alle leer.
Er kehrte um und ging ins nächste Stockwerk hinunter. In
der Mitte des düsteren Flurs stieß er auf eine Tür, an der
tatsächlich ein Kärtchen steckte.
Darauf stand: Caroline Fleming.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er am Türknauf
drehte.
Abgeschlossen.
Wieder nahm er den Schlüsselbund zur Hand und machte
sich an die Arbeit. Diesmal hatte er mehr Glück. Beim vierten
Versuch schnappte das Schloss auf. Vorsichtig stieß er die Tür
auf.
Es fiel gerade so viel Licht ins Zimmer, dass er seine Mutter
auf dem Bett liegen sehen konnte. Sie schien zu schlafen. Nach
einem raschen Blick in beide Richtungen des Flurs schlüpfte er
ins Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und schloss wieder ab.
Leise ging er zum Bett. »Mom?«, flüsterte er.
Ich träume, dachte Caroline. Obwohl sie wild entschlossen
gewesen war, wach zu bleiben und aus diesem Krankenhaus
oder was immer es war zu fliehen, musste sie eingeschlafen
sein und träumte jetzt.
Im Traum hörte sie Ryan rufen.
»Mom?«
Sie hörte ihn wieder, etwas lauter jetzt, doch als sie mühsam
die Augen aufschlug, sah sie nur den schwachen Lichtschein
der Nachtlampe, die in Fußbodennähe in einer Steckdose
steckte. Und einen Schatten, der über die Zimmerdecke
huschte.
Den Schatten einer menschlichen Gestalt.
Es war jemand in ihrem Zimmer! Dabei hatte sie die Tür gar
nicht gehört, hatte gar nichts gehört, bis Ryans Stimme sie aus
dem Schlaf gerissen hatte.
Der Schatten wurde größer, und jetzt spürte sie ganz
deutlich, dass jemand in der Nähe ihres Betts war. Dann, als ihr
Herz vor Angst schneller klopfte, hörte sie Ryan zum dritten
Mal. Diesmal rief er fast mit normaler Lautstärke:
»Mom!«
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