Mitternachtsstimmen
erklärte Anthony wie aus der
Pistole geschossen und erhob sich.
Irene funkelte ihn strafend an. »Nun seien Sie nicht albern,
Anthony. Wir sind doch eben erst gekommen. Ein paar
Minuten werden Sie doch noch sitzen bleiben können.«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein«, gab Fleming
zurück und richtete ein unverbindliches Lächeln an Caroline
Evans. »Nett, Sie kennen gelernt zu haben. Und hüten Sie sich
vor Irene – die nimmt Ihr Leben in die Hand, so schnell können
Sie gar nicht schauen. Das Beste, was Sie tun können, ist,
aufzustehen und zu gehen, bevor sie richtig loslegt. Genau wie
ich es jetzt tue«, fügte er gedehnt hinzu, als Irene den Mund
aufmachte, um etwas zu sagen. »Halten Sie sich zurück,
Irene.«
Irene sah ihm noch kurz hinterher, dann wandte sie ihre
Aufmerksamkeit wieder Caroline Evans zu und stieß einen
resignierten Seufzer aus. »Ich schwöre Ihnen, ich weiß nicht
mehr, was ich mit diesem Mann tun soll.«
»Er scheint sehr nett zu sein«, gab Caroline zurück.
»Das ist er«, pflichtete Irene ihr bei. »Doch seit dem Tod
seiner geliebten Gattin …« Ihre Stimme verklang zögernd,
doch dann schien sie innerlich den Gang einzulegen. »Ach, das
werden Sie sicher nicht hören wollen, nicht wahr? Erzählen Sie
mir von sich, Caroline.«
Als sie eine Stunde später den Park verließ, begann es in
Irene Delamonds Kopf zu arbeiten, und als sie wieder in ihrer
Wohnung war, hatte bereits eine ziemlich genaue Vorstellung
Gestalt angenommen. Sie tätigte ein paar Anrufe, doch
Anthony war nicht darunter. Im Augenblick bestand noch
keine Veranlassung, ihn mit ihren Plänen vertraut zu machen.
Überhaupt keine Veranlassung.
3. Kapitel
Irene Delamond klingelte bei Virginia Esterbrook Sturm,
klopfte ein paar Mal an die Tür und rief: »Virgie? Virgie, bist
du zu Hause?« Sie wartete ungeduldig, drückte abermals auf
die Klingel und überlegte, Rodney zu rufen, damit er den
Generalschlüssel brachte, als sie endlich hörte, wie der
Schließriegel aufging und die Kette aufgezogen wurde. Die Tür
öffnete sich eine Handbreit, und ein rheumatisches Auge lugte
durch den schmalen Spalt.
»Natürlich bin ich zu Hause«, sagte eine dünne, kratzige
Stimme.
»Steh nicht einfach so da, Virgie«, kommandierte Irene.
»Lass mich rein. Und warum, um Himmels willen, legst du die
Kette vor und schließt ab?«
Die Tür schwang gerade so weit auf, dass Irene hineinschlüpfen konnte, dann wurde sie sofort wieder geschlossen,
und Irene hörte den Schließriegel einrasten.
»Sieh mich doch nur an«, sagte Virginia Estherbrook so
bitter, dass Irene spontan die Hand ausstreckte und ihre
Schulter tätschelte. »Würdest du nicht auch die Tür
verrammeln, wenn du so aussähst?«
Irene nahm Virginias Arm und führte die gebrechliche Frau
durch die schummrige Diele in ein Wohnzimmer, das noch
geräumiger war als Irenes, aber so düster, dass sie sich in dem
dunkel tapezierten Raum wie in einem Verlies vorkam. Als
Virginia sich umständlich auf einem Stuhl mit kerzengerader
Rückenlehne niedergelassen hatte, ging Irene zu den Fenstern
und zog die schweren Vorhänge auf, um die frühe
Nachmittagssonne hereinzulassen. Dann knipste sie alle
Lampen an, beziehungsweise die Lampen, die noch
funktionierten. Bei drei der Tischlampen waren die Birnen
durchgebrannt, und die Dreiwegeglühbirnen in den Stehlampen
waren durch gewöhnliche 60-Watt-Birnen ersetzt worden. Eitelkeit, Eitelkeit, sagte Irene im Stillen zu sich, dein Name ist
Virginia Estherbrook. Doch als sie dann in das Gesicht ihrer
Freundin blickte, verspürte sie den schmerzhaften Stich des
Mitleids.
Unmöglich zu sagen, wie alt genau Virginia Estherbrook war
– Virgie hatte es nie verraten, und Irene würde sie nie danach
fragen – doch die Zeit hatte tiefe Spuren in ihrem Gesicht
hinterlassen, obwohl Virgie sehr viel Mühe auf ihr Make-up
verwendete. Selbst unter der dicken Puderschicht kamen die
tiefen Furchen und die papierdünne Haut zum Vorschein, und
die Augen schienen in ihrem Schädel zu versinken. Sie trug
einen Glockenhut, woraus Irene schloss, dass ihr Haar noch
dünner geworden war. Das allein wäre schon Grund genug
gewesen, dass Virgie das Licht dimmte, die Vorhänge zuzog
und die Tür verriegelte. Denn ihr Haar – einst eine üppige,
kastanienrote Lockenpracht, die ihr bis zur Hüfte reichte, wenn
sie sie nicht zu einem eleganten französischen Knoten
bändigte, der nicht nur ihre außergewöhnliche
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