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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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Schönheit
unterstrich, sondern auch ihre Größe – war immer ihr ganzer
Stolz und ihre Freude gewesen. In der Blüte ihrer Jahre
brauchte Virginia nur einen Raum zu betreten und konnte
sicher sein, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu
vereinigen. Und wenn sie aus der Seitenkulisse in den
Lichtkegel der Bodenscheinwerfer trat, dann wusste das
Publikum, dass es etwas Großartiges erwarten durfte. In diesen
Tagen aber war Virginia zu einem Phantom ihres früheren
Selbst geschrumpft, und wenn Irene in die Tiefen ihrer
eingesunkenen Augen blickte, war es nicht Angst, was sie
darin sah, sondern Scham.
Während ihre alte Freundin sie betrachtete, wandte Virginia
Estherbrook das Gesicht ab. »Sieh mich nicht an«, flehte sie.
»Würdest du mit meinem Aussehen nicht auch die Türen
verschließen? Ach, bitte, kannst du nicht das Licht abdrehen?«
»Es wird alles gut, Virgie«, erwiderte Irene tröstend. »Ich
weiß, es wird alles gut.«
Virginia schien sie gar nicht zu hören. »Ich sollte im Bett
liegen«, wisperte sie so leise, dass Irene nicht sagen konnte, ob
die alte Frau mit ihr sprach oder mit sich selbst. »Ich sollte
meine Kräfte aufsparen.« Ihr Kopf schwang herum, und sie
machte den Blick an Irene fest. »Ach, aber wofür? Wozu?« Sie
streckte eine verwelkte Hand aus, legte sie auf Irenes Arm und
begann sich mühsam von ihrem Stuhl zu erheben. Irene bot ihr
die freie Hand als Hilfe an, doch Virginia schüttelte unwirsch
den Kopf. »Ich komme allein zurecht. Man hat mich noch nie
von einer Bühne getragen, und das würde ich auch nicht
zulassen!« Offensichtlich ihre letzten Kräfte mobilisierend,
rappelte sie sich auf die Füße, hielt sich noch einen Moment an
Irene fest, um wieder zu Atem zu kommen, dann ließ sie die
Hand fallen. Sie schlurfte auf die Tür zu, die in ihr
Schlafzimmer führte. Irene war nicht sicher, ob ihre Freundin
wollte, dass sie ging oder blieb, doch dann sagte Virginia:
»Weißt du, was ich jetzt gerne hätte?«, begann sie und
beantwortete ihre Frage wie immer selbst. »Einen ordentlichen
Martini mit einem Spritzer Wermut und einer Olive. Sei ein
Schatz und mix mir einen.«
»Darf ich mir selbst auch einen einschenken, Eure
Majestät?«, konterte Irene, doch ihr Sarkasmus schien bei
Virginia nicht anzukommen.
»Wenn du möchtest.« Steifbeinig einen Fuß vor den anderen
setzend, verschwand Virginia in ihrem Schlafzimmer.
Ein paar Minuten später folgte ihr Irene mit zwei Martinis
auf einem Silbertablett. Sie sah sich nach einem Platz um, wo
sie die Drinks abstellen konnte, doch jede ebene Fläche in dem
Raum war mit in Silberrahmen steckenden Fotografien von
Männern voll gestellt – alles gut aussehende Männer, alles dem
Anschein nach Schauspieler.
»Ist da ein einziger Kerl darunter, mit dem du nicht im Bett
warst?«, erkundigte sich Irene und schob schließlich mit dem
Tablett ein Dutzend Bilder beiseite, damit sie es endlich
abstellen konnte.
»Selbstverständlich«, erwiderte Viginia, ohne sich auch nur
im Geringsten von dieser Frage brüskiert zu zeigen. Sie lehnte
mit dem Rücken an einem Kissenberg und trug ein Peignoir,
das Irene als Kostüm aus einem Stück wieder erkannte, das
Virginia vor mehreren Jahrzehnten gespielt hatte. Sie nahm ihr
das angebotene Glas ab. »Manche von ihnen waren schwul.«
Während sie mit zusammengekniffenen Augen die Fotosammlung betrachtete, hob sie ihr Glas mit zittriger Hand. »Ein
Prosit auf alle anderen! Ihr habt mir eine Menge wundervoller
Erinnerungen beschert!« Sie nippte an ihrem Martini, der ihr
ein wenig Kraft zu verleihen schien, und klopfte auf den freien
Platz neben sich auf dem Bett. »Aber wir wollen nicht länger
über mich sprechen. Ich bin meiner überdrüssig, ich langweile
mich zu Tode! Komm, erzähl mir alles, was du heute erlebt
hast!«
Irene übersah die Aufforderung, sich zu Virginia aufs Bett zu
setzen, zog aber ihren Stuhl ein wenig näher ans Bett heran.
»Ich glaube, ich habe heute eine Frau für Anthony gefunden«,
begann sie, und sofort wurde Virginias Blick klarer.
»Wirklich? Wo denn?«
»Im Park. Sie ist ungefähr in Lenores Alter.«
Virginia Estherbrook seufzte. »Ich vermisse Lenore.«
»Das geht uns allen so«, fiel Irene in ihr Seufzen ein.
»Aber das ist leider nicht zu ändern, nicht wahr? Es wird
Zeit für Anthony, sich wieder dem Leben zu stellen.
»Glaubst du, er ist schon bereit dazu?«
Irene schnupfte. »Aber sicher ist er das.«
»Woher weißt du das denn?«, hakte Virginia nach.

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