Mitternachtsstimmen
Delamond?
Während all diese Bilder des unaufhaltsam voranschreitenden Alters, das die Jugend verzehrte, durch sein Bewusstsein
schwebten, wurde dieses Verlangen, das ihm in dieser Nacht
den Schlaf raubte, immer stärker.
Es lockte ihn.
Flehte ihn an.
Er starrte auf seinen alternden Körper.
Und wusste, dass diese Sehnsüchte gestillt werden mussten,
ehe es zu spät war, und er sie nicht mehr würde befriedigen
können.
Er schaltete das Licht aus und tauchte den Raum – und sich
selbst – in tiefe Dunkelheit.
Da waren Leute in Lauries Zimmer.
Aber das sollte nicht sein. Das hier war ihr Zimmer, und
niemand war berechtigt, es zu betreten, wenn er von ihr dazu
nicht aufgefordert worden war.
Und das Licht war an.
Aber irgendetwas war anders mit diesem Licht. Es war nicht
der helle Schein, den der Kronleuchter ins Zimmer warf, oder
das noch hellere Licht der neuen Halogenlampe auf ihrem
Nachttisch.
Auch nicht das Licht der Straßenlaternen.
Nein, dieses Licht war anders, erfüllte ihr Zimmer mit einem
seltsam dunstigen Schein, so als sei es neblig und gleichzeitig
schiene die Sonne.
Und aus diesem nebligen Dunst kamen die Stimmen.
Die gleichen Stimmen wie letzte Nacht?
Sicher wusste sie es nicht.
Sie schienen viel näher zu sein als vergangene Nacht, aber
heute konnte sie kein einziges Wort verstehen. Und plötzlich
tauchte neben ihrem Bett eine Gestalt auf.
Eine Gestalt, die sie kannte.
Helena Kensington!
Die alte Frau beugte sich zu ihr herab, ihre knotigen
krummen Finger griffen nach ihr und schließlich spürte sie sie
ihr Gesicht berühren. Sie kniff die Augen zu, versuchte
zurückzuweichen, aber es gelang ihr nicht.
Es war, als hätte man sie ans Bett gefesselt, denn weder ihre
Arme noch ihre Beine gehorchten ihren Befehlen. Andererseits
spürte sie keinerlei Fesseln.
Sie öffnete die Lippen zu einem Schrei, aber kein Laut
verließ ihren Mund, der sich anfühlte wie mit Watte
ausgestopft.
Sie versuchte Helenas Berührungen auszuweichen, aber vor
ihren knotigen Fingern gab es kein Entrinnen.
Und immer mehr Finger betasteten sie, und Laurie sah
plötzlich auch mehrere Gesichter, die sie aus dem Nebel heraus
anstarrten. Dr. Humphries war da, und Tildie Parnova und
George Burton und andere Leute, die sie wiedererkannte, aber
an deren Namen sie sich nicht erinnerte. Sie redeten alle, aber
Laurie konnte nicht feststellen, ob sie mit ihr redeten oder miteinander. Sie spürte, wie die Decke und das Leintuch
weggezogen wurden, und nun lag sie auf ihrem Bett, bis auf ihr
Nachthemd unbedeckt.
Plötzlich fror sie, und obwohl es bis vor kurzem noch
angenehm warm in ihrem Zimmer gewesen war, wurde ihre
Haut ganz klamm.
Da war etwas auf ihrem Oberschenkel unter dem
Nachthemd.
Eine Hand?
Sie wusste es nicht zu sagen.
Und jetzt verspürte sie einen Schmerz in ihrem Körper, als
sei etwas in ihr, was sich mit Hilfe eines Messers aus ihr
herauskämpfte.
Sie wollte diesen Schmerz herausschreien, doch die dicke
Watte in ihrem Mund verschluckte jedes Wort, und plötzlich
bekam sie auch keine Luft mehr.
Was war da los?
Die Stimmen schwollen an, aber immer noch konnte sie
nicht verstehen, was sie sagten. Noch mehr Hände betatschten
sie, tasteten ihren Körper ab, griffen unter ihr Nachthemd,
zwickten sie. Und mit jedem Augenblick wurden die
Schmerzen in ihrem Körper schlimmer, bis sie glaubte, sie
nicht mehr aushalten zu können.
Dann, als die Schmerzen in ihrem Inneren explodierten,
spürte sie plötzlich etwas Seltsames zwischen ihren Beinen.
Blut!
Es lief aus ihr heraus, tränkte ihr Nachthemd, breitete sich
auf dem Bettlaken aus. Das Stimmengewirr wurde lauter, und
jetzt sah sie, wie die Finger ins Blut getaucht – ihr Blut –, an
gierige Lippen gehoben und abgeleckt wurden.
Ihr Blut! Sie tranken ihr Blut!
Sie versuchte sich seitlich wegzurollen, aber die unsichtbaren Fesseln waren zu stark.
Sie starb, verblutete, und obwohl sie von Menschen
umgeben war – von Menschen, die sie kannte – half ihr
niemand. Die Schmerzen, die ihren Körper lähmten, wuchsen
gleichzeitig mit der Angst, die sich unerbittlich in ihr
Bewusstsein grub.
Dann erhob sich aus dem Morast dieses Gebrabbels eine
Stimme, die sie erkannte, und die Worte sprach, die sie
verstehen konnte. »Ihre Augen. Lasst mir ihre Augen. Ich
brauche ihre Augen!«
Das war Helena Kensington, die nun wieder nach Lauries
Gesicht tastete, und deren abgebrochene, vergilbte Fingernägel
ihren Augen immer näher kamen.
Als die
Weitere Kostenlose Bücher