Mitternachtsstimmen
Finger der Greisin sich in ihr Gesicht gruben, und die
Schmerzen und die Todesangst sie überwältigten, da brach
endlich ein gellender Schrei aus ihr hervor.
Laurie wachte auf.
Der Traum – all die grässlichen Bilder – waren mit einem
Mal verschwunden. Zurück blieben nur die Angst und die
Schmerzen.
Laurie knipste die Lampe an ihrem Bett an, die die Angst
verjagte.
Aber nicht den Schmerz. Der war noch da, wütete, als hätte
ihr jemand ein Messer in den Unterleib gerammt.
Ein Messer!
Blut? War da Blut gewesen?
Dann spürte sie es – etwas Warmes, Klebriges zwischen
ihren Schenkeln. Ihr Herz klopfte. Laurie schlug die Decke
zurück und schaute nach.
Ihr Nachthemd war voll roter Flecken.
Beinahe widerstrebend tauchte Carolines Bewusstsein aus den
nebligen Tiefen des Schlafs. Zuerst war sie völlig desorientiert,
so als hätte sich ihr Geist im Schlaf von ihrem Körper
abgekoppelt und driftete durch eine Sphäre, in der es weder
Zeit noch Raum noch Wirklichkeit gab. Doch dann löste sich
diese wolkige graue Wand langsam auf, und die Erinnerung
kehrte zurück: Sie hatte im Bett gelegen, den Kopf auf Tonys
breite Schulter gebettet, seine starken Arme hatten sie
schützend gehalten, und sein tiefer, gleichmäßiger Atem hatte
sie in einen traumlosen Schlaf gelullt. Aber jetzt – wie viel Zeit
war seither vergangen? – war sie hellwach, saß senkrecht im
Bett und umklammerte ihre Decke.
Ihr Herz hämmerte, als wäre sie soeben aus einem
schrecklichen Albtraum erwacht. Aber sie hatte nicht schlecht
geträumt – sie hatte überhaupt nicht geträumt.
Was hatte sie dann aufgeweckt?
Ein Schrei?
Hatte sie einen Schrei gehört?
Aber wo? Draußen auf der Straße? Oder hier in ihrer
Wohnung?
Jetzt war ihr Kopf ganz klar, und sie lauschte angestrengt,
hörte aber nichts als ein vorbeifahrendes Auto unten auf der
Straße.
Was war passiert? Sie hatte tief und fest in Tonys Armen –
Instinktiv schob sie ihre Hand auf seine Bettseite, tastete
nach ihm.
Leer!
»Tony!«, rief sie. Ungeschickt fummelte sie an dem
Lichtschalter auf ihrer Seite herum, bis der große Lüster in der
Mitte des Raumes anging und sie mit seinem kristallenem
Licht blendete. »Tony?«, rief sie abermals, ein bisschen lauter
diesmal. Sie wollte gerade aus dem Bett steigen, als die
Schlafzimmertür geöffnet wurde. Einen Moment später war er
wieder im Bett und hatte sie in seine Arme gezogen.
»Verzeih«, flüsterte er, und seine Lippen bewegten sich dicht
an ihrem Ohr, während er sich nach dem Lichtschalter streckte.
»Ich wollte dich nicht aufwecken.«
»Hast du auch nicht«, sagte Caroline. »Ich dachte – ach, ich
weiß nicht. Irgendwas hat mich aufgeweckt. Ich …« Bei dem
Versuch herauszufinden, was sie geweckt hatte, brach ihre
Stimme ab.
Tony ließ den Arm sinken, stützte sich auf den Ellbogen und
sah sie besorgt an. »Geht es dir gut?«
»Ich … ich bin nicht sicher.«
Tony legte die Stirn in fragende Falten. »Hast du etwas
gehört?«
»Ich weiß nicht.«
Er stand wieder auf, ging ans Fenster und zog die schweren
Jalousien hoch. »Unten auf der Straße ist nichts.«
Inzwischen war auch Caroline aufgestanden. »Wahrscheinlich habe ich geträumt, aber ich sehe trotzdem rasch nach den
Kindern.« Sie zog den Morgenmantel über und trat hinaus in
den Flur. Das Nachtlicht war gerade hell genug, dass sie sich
davon überzeugen konnte, dass da nichts Ungewöhnliches war.
Doch als sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt
hatten, sah sie den Lichtschein unter Lauries Tür und lief sofort
los. »Laurie?«, rief sie leise.
Keine Antwort.
Sie legte die Hand auf den Türgriff, drehte ihn und stieß die
Tür einen Spalt weit auf, beinahe überzeugt davon, dass sie
ihre Tochter schlafend vorfinden würde, vielleicht mit einem
aufgeschlagenen Buch auf der Brust.
Aber Laurie schlief keineswegs. Sie kauerte ängstlich am
Kopfende ihres Betts, die Arme um ein Kissen geschlungen,
schneeweiß im Gesicht, und sie hatte geweint.
»Laurie?« Caroline stieß die Tür ganz auf und rannte zum
Bett. »Was ist denn? Was ist –« Die Worte erstarben ihr auf
den Lippen, als sie die hellroten Flecken auf Lauries Laken und
ihrem Nachthemd sah.
Ihre Tochter starrte sie aus großen Augen an, und als sie
schließlich sprach, zitterte ihre Stimme vor Angst. »Da waren
Leute in meinem Zimmer«, wisperte sie. »Sie waren alle um
mich herum, und haben mich angefasst, und es tut weh, und –«
Ein tiefer Schluchzer
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