Mitternachtsstimmen
Einträgen durch. Obwohl man noch erkennen konnte, dass
dieses Buch vor etlichen Jahren einmal ganz ordentlich
angelegt worden war, hatten sich doch im Laufe der Zeit
Telefonnummern geändert, einige Namen waren inzwischen
ausgestrichen, während andere diverse Mutationen von Eheschließungen und Scheidungen durchlaufen hatten. Oberholzer
überflog das Büchlein einmal rasch und begann dann wieder
bei »A«, blätterte Seite für Seite um, in der Hoffnung, dass er
über irgendetwas stolperte.
Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht, beziehungsweise
kein Eintrag animierte ihn dazu, eine Nummer zu wählen.
Nachdem er Adressbuch und Tagesplaner in seine Aktentasche gepackt hatte, ging er ganz langsam durch die kleine
Wohnung, öffnete Schranktüren und Schubladen auf der Suche
nach irgendeinem Hinweis darauf, warum Andrea Costanza
ermordet worden sein könnte.
Nichts.
Nachdem er das Notebook heruntergefahren hatte, verstaute
er es ebenfalls in seiner Tasche und überließ den Rest den
Kollegen von der Spurensicherung, die dann noch mitnehmen
würden, was sie für relevant hielten. Er selbst würde sich
zunächst mit dem Adressbuch und dem Tagesplaner
beschäftigen, jeden anrufen, den Andrea kannte, und jeden
aufsuchen, mit dem sie verkehrte.
Irgendwo, so hoffte er, würde er einen Hinweis finden,
warum Andrea Costanza umgebracht worden war.
Vorausgesetzt freilich, dass es dafür einen Grund gab, und
Frank Oberholzer hatte die Erfahrung machen müssen, dass in
New York City viele Morde ohne das geringste Motiv verübt
wurden.
Meist waren die Opfer nur zur falschen Zeit am falschen Ort,
wie dieser arme Kerl, der vergangenes Jahr im Central Park
ermordet worden war. Wie war doch gleich sein Name?
Evans. Genau. Brad Evans. Hat eine hübsche junge Frau und
zwei Kinder zurückgelassen, und es hat sich nie ein Motiv für
seinen Tod gefunden.
Oberholzer konnte nur hoffen, dass es im Fall Andrea
Costanza nicht auch so sein würde.
Caroline schlief zwar nicht mehr richtig, als das Telefon
klingelte, aber ganz wach war sie auch noch nicht, und als sie
nach dem Hörer tastete, fühlte sie sich plötzlich irgendwie
desorientiert. Dann, als ihre Finger das harte Plastik des Hörers
umfassten, erinnerte sie sich wieder: Sie hatte sich, nachdem
sie sich am Morgen krankgemeldet hatte, wieder hingelegt.
»Hallo?«
»Mrs. Fleming?«, fragte eine weibliche Stimme.
»Ja.«
»Einen Augenblick, ich verbinde Sie mit dem Direktor.«
Dem Direktor? Was ging hier vor? Sie setzte sich auf, sah
auf die Uhr: kurz vor drei. Hatte sie tatsächlich den ganzen Tag
verschlafen? Sie hatte sich nur noch einmal für eine halbe
Stunde hinlegen wollen – höchstens eine Stunde. Dann drang
die Stimme von Ralph Winthrop durch die Leitung. »Es tut mir
Leid, Sie zu –«, begann er, doch Caroline, die plötzlich
Herzklopfen bekam, unterbrach ihn.
»Was ist passiert?«, wollte sie wissen. »Ist Ryan etwas
zugestoßen?«
Er zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, doch in dieser
Zeit brach Caroline der kalte Schweiß aus. »Nein, es geht ihm
gut, aber – tja, er war in eine Prügelei verwickelt.«
»Eine Prügelei?«, hörte Caroline sich verständnislos sagen.
»Ich … ich, verzeihen Sie, ich verstehe nicht. Sind Sie sicher,
dass es ihm gut geht?«
Wieder ein Zögern. »Verletzt ist er nicht, nein. Aber gut
gehen –« Er unterbrach sich, schien nach den richtigen Worten
zu suchen. »Könnten Sie vielleicht in die Schule kommen?«
Caroline saß jetzt aufrecht auf der Bettkante, die Füße
standen auf dem Boden, und dennoch kam sie irgendwie nicht
hoch. »Ich fürchte nein«, begann sie. »Meine Tochter liegt mit
einer Erkältung im Bett, und ich bin nicht zur Arbeit gegangen,
weil –«
Plötzlich hatte sie Tony in der Leitung. »Bleib liegen,
Liebes«, sagte er. »Was immer in der Schule anliegt, darum
kann ich mich ja kümmern.« Sein Tonfall änderte sich ein
wenig, als er die nächsten Worte an den Direktor richtete:
»Hier ist Ryans Stiefvater. Ich …«
Caroline hörte nicht länger zu. Was tat sie hier eigentlich –
nachmittags um drei noch im Bett! Schließlich war sie ja nicht
krank, war am Morgen nur so müde gewesen. »Lass nur,
Tony«, unterbrach sie ihn. »Ich mache das schon.« Jetzt war es
ihre Stimme, die sich veränderte. »Ich bin in einer halben
Stunde da.« Sie legte auf, ging ins Badezimmer, duschte und
drehte am Schluss das kalte Wasser auf, bis ihre Haut kribbelte,
und auch
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