Mitternachtsstimmen
dachten wir, dass ihr das Klima dort
besser bekommt.«
Laurie starrte Mrs. Albion verdutzt an. Komisch, warum
hatte Rebecca ihr nicht erzählt, dass sie verreisen würde? Als
sie gestern bei ihr war, hatte sie kein Wort davon gesagt, dass
sie irgendwo hinfahren wollte. Eigentlich hatte sie nur gehofft,
nicht ins Krankenhaus zu müssen. Und wenn sie wirklich so
krank war, dass ein Krankenhausaufenthalt nötig erschien, wie
konnte sie dann so weit wie nach New Mexico reisen?
»Kommt sie wieder?«, fragte Laurie nach einer Weile.
Alicia Albions Augen weiteten sich für einen Moment, als
wüsste sie nicht genau, was sie antworten sollte, aber dann
nickte sie nachdrücklich. »Natürlich kommt sie zurück.«
»Wann?«
Jetzt kniff sie auf einmal die Augen zusammen, und Laurie
glaubte ein wütendes Aufblitzen darin gesehen zu haben, ehe
Alicia sie wieder anlächelte. »Nun, ich weiß nicht genau«,
sagte sie. »Wenn es ihr dort gefällt, bleibt sie vielleicht für
länger dort.« Wieder dieses Zögern. »Vielleicht den ganzen
Winter über.«
Plötzlich hörte Laurie Max Albion irgendwo in der
Wohnung rufen: »Alicia, wer ist das?«
»Laurie«, rief Alicia zurück. »Sie wollte Rebecca besuchen.«
Einen Moment herrschte Schweigen, dann: »Warum bittest
du sie nicht herein?«
Alicia machte die Tür ein Stück weiter auf, und jetzt lächelte
sie wieder ganz freundlich. »Möchtest du auf einen Sprung
hereinkommen? Wir finden sicher irgendwo etwas Süßes für
dich. Komm doch –«
Aber Laurie hatte bereits einen Schritt zurück gemacht.
»Nein«, sagte sie. »Ich muss wieder nach Hause. Jetzt gleich.«
Damit drehte sie sich um und ging mit schnellen Schritten
zurück zur Treppe. Erst als Alicia Albion sie nicht mehr sehen
konnte, fing sie an zu rennen und flog gleichsam die zwei
Stockwerke hinab. Unten in der Wohnung sauste sie in ihr
Zimmer und zog wieder ihren Pyjama und den Morgenmantel
an, damit ihre Mutter nicht merkte, dass sie die Wohnung
verlassen hatte.
Beim Umziehen jedoch rasten ihre Gedanken. Wo war
Rebecca? Sie war sich beinahe sicher, dass Mrs. Albion ihr
nicht die Wahrheit gesagt hatte: Wenn Rebecca wirklich nach
New Mexico gefahren war, dann hätte sie es ihr bestimmt
erzählt. Also musste sie irgendwo anders sein.
Im Krankenhaus?
Aber warum sollte Mrs. Albion ihr das verschweigen
wollen?
Und dann, noch während ihr die Frage durch den Kopf
schwirrte, fiel ihr plötzlich eine Antwort darauf ein.
Was, wenn Rebecca nicht im Krankenhaus war, und auch
nicht in New Mexico?
Wenn sie tot war?
Obwohl der Herbst nahte, lag an diesem Nachmittag noch
einmal eine schwüle Hitze über der Stadt, die Caroline auf dem
Weg zur Elliott Academy die Kleider am Leib kleben ließ und
ihr Haar schlaff und strähnig machte. Aber es war nicht nur ihr
Körper, dem die Hitze zusetzte, sondern auch ihrem Gemüt.
Mit jedem Schritt, den sie machte, zitterte sie innerlich mehr,
und die merkwürdigsten Gedanken spukten ihr im Kopf herum.
Sie befand sich ganz in der Nähe der Straßen, die Brad
genommen hatte, als er zu seinem letzten Jogging
aufgebrochen war.
Die Straßen, wo er geglaubt hatte, von anderen beobachtet
und verfolgt zu werden.
Die Straßen, durch die Andrea in den letzten Tagen ihres
Lebens gegangen war, auf dem Weg zur Arbeit und nach
Hause, um Besorgungen zu machen und die alltäglichen Dinge
zu verrichten, wie die anderen Menschen hier auch.
Wie sie.
War der Mörder jetzt auch hier und suchte sich ein neues
Opfer?
Sie zum Beispiel?
Sie schaute sich um, musterte die Passanten auf beiden
Straßenseiten. Beobachtete irgendeiner von ihnen jemanden?
Oder tat einer so, als beobachtete er niemanden? Was war mit
dem Mann gegenüber, der mit dem Rücken zu ihr vor einem
Schaufenster stand? Betrachtete er wirklich etwas in dieser
Auslage, oder tat er nur so?
Der Mann ging weiter, ohne auch nur annähernd in ihre
Richtung zu schauen. Aber er würde sie ohnehin nicht direkt
anschauen, oder? Er könnte ihr Spiegelbild in der Schaufensterscheibe gesehen und bemerkt haben, dass sie ihn
anvisierte. Sie verfolgte ihn bis zur nächsten Straßenecke, wo
er nach links abbog und die Amsterdam Avenue entlang
verschwand.
Du bist kindisch!, schalt sich Caroline. Kindisch und vom
Verfolgungswahn geplagt, genau wie Brad! Nur dass Brad tot
war, und Andrea auch. War das kein Grund, einen Wahn zu
entwickeln? Aber wenn zwei Menschen tot waren – der eigene
Ehemann und die beste Freundin –,
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