Mitternachtsstimmen
Verbrechens zu machen.
Was in diesem Fall nicht sehr schwierig war: Costanza war
wahrscheinlich auf dem Sofa gesessen, mit dem Rücken zum
Fenster. Vielleicht war sie auch eingeschlafen, was dem
Mörder sein brutales Werk erleichtert hätte – dem ahnungslosen Opfer von hinten den Arm um den Hals zu legen und mit
der anderen den Kopf ruckartig zur Seite zu drücken.
Eine Sache von einer, höchstens zwei Sekunden, ohne
nennenswerte Gegenwehr. Überhaupt keine Gegenwehr,
abgesehen vielleicht von dem vergeblichen Versuch, sich dem
Arm zu entwinden, bei dem ein paar Textilfasern unter
Andreas Fingernägeln zurückgeblieben waren. Obwohl das
Labor die Fasern noch nicht identifiziert hatte, hätte
Oberholzer ein Jahresgehalt verwettet, das diese Fasern von
einer Männerjacke stammten. Oder einem Mantel.
Es hatte nicht den Anschein, als sei etwas gestohlen worden,
doch andererseits schien es hier auch nichts Wertvolles zu
geben. Aber genau deshalb war Oberholzer hier – um etwas zu
finden, was ihm einen Hinweis auf das Tatmotiv liefern
könnte. Er hatte es hier nicht mit einem Sexualdelikt zu tun,
und nachdem die Brieftasche des Opfers noch dalag, schied
Raubmord ebenfalls aus. Ex-Ehemänner und Ex-Liebhaber
schlugen ihre Opfer gewöhnlich, bevor sie sie dann töteten,
was hier auch nicht der Fall war.
Etwas nagte in Frank Oberholzers Hinterkopf, was er jedoch
nicht greifen konnte.
Sein Blick fiel auf das Notebook, das immer noch dort auf
dem Tisch stand, wo Andrea es aufgestellt hatte, und das auch
seit seinem Betreten des Apartments gestern niemand angefasst
hatte. Auf dem Monitor flimmerte ein Netzwerk-Programm,
dazu ein Fenster, das sich geöffnet hatte, um anzuzeigen, dass
die Internet-Verbindung getrennt worden war, und die
Möglichkeit bot, die Verbindung wiederherzustellen. Mit
konzentrierter Miene klickte Oberholzer sich durch
verschiedene Symbole und Fenster, bis er eines fand, das
anzeigte, dass die letzte Internet-Verbindung am Freitag um 20
Uhr 32 zustande gekommen und eine Stunde später
abgebrochen worden war.
Demnach war Costanza um 20 Uhr 32 noch am Leben
gewesen, und obwohl sich das nicht beweisen ließ, wusste
Oberholzer, dass die Verbindung nur deshalb abgebrochen war,
weil die Person, die sie hergestellt hatte, nicht mehr am Leben
war.
Während er die Daten sicherte, starrte er die vertrauten
Wolken auf dem Windows-Desktop an und klickte dann
zweimal auf das Outlook-Symbol.
Das Userverzeichnis auf Costanzas Computer war genauso
leer wie auf seinem eigenen, und Oberholzer musste unwillkürlich grinsen, als ihm klar wurde, dass es in New York noch
jemanden gab außer ihm, der nicht dem Computerwahn
verfallen war. Doch als ihm im nächsten Moment auch klar
wurde, dass er jetzt allein auf weiter Flur stand, verging ihm
sein Grinsen.
Er öffnete das Kalenderfenster von Outlook und fand dieses
ebenfalls leer.
Mit einem resignierten Seufzer erhob er sich und ging zu
dem kleinen Telefontischchen neben der Eingangstür. Davor
lehnte die große Einkaufstasche, die Andrea Costanza als
Handtasche verwendet hatte. Er nahm sie mit zurück zum
Tisch und begann, den Inhalt auszupacken: einen Kamm und
eine Bürste, Puderdose und Lippenstift, eine halb leere
Packung Papiertaschentücher, ein zerknülltes Taschentuch,
eine Geldbörse mit etlichen Bildern von Kindern und nur ein
paar Kreditkarten, ein Handy mit leerem Akku, und ein
zerfledderter Tagesplaner. Ganz unten am Boden fand er ein
dickes Adressbuch, dessen Einband auch schon reichlich
abgegriffen war, und das noch nicht durch einen dieser
winzigen Pocket-Computer ersetzt worden war. Sehr gut, dachte Oberholzer. Genau mein Mädchen.
Er legte das Adressbuch zur Seite und nahm sich den
Tagesplaner vor, fing beim aktuellen Datum an und blätterte
zurück. Es dauerte nicht lange, bis Andrea Costanzas Leben
Gestalt anzunehmen begann.
Tagsüber Arbeit, verbunden mit vielen Auswärtsterminen,
der Letzte bei einem Dr. Humphries.
Die Abende und Wochenenden überwiegend leer.
Kurz gesagt, eine Frau, die hart arbeitete und ansonsten nicht
viel unternahm.
Noch ein Argument, das gegen einen festen Freund sprach,
weder einen früheren noch gegenwärtigen. Tatsächlich waren
die einzigen Hinweise auf ein Privatleben die Einladung zu Carolines Hochzeit – Plaza Hotel, vor ein paar Wochen, und Mittagessen – Ciyriani – B/R/C vor etlichen Monaten gewesen.
Anschließend sah er das Adressbuch mit den kunterbunten
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