Mitternachtsstimmen
Arbeitszimmer, sah auf die Uhr und seufzte. »Es
kommt mir vor, als wäre es schon sechs, dabei ist es noch nicht
mal vier.«
»War es so schlimm?«, erkundigte Tony sich mitfühlend.
»Ein paar Tupfer Arnika, und die Schramme wird bald
verheilt sein. Wegen einer Lappalie wie einer Schulhofrauferei
hätten sie dich aber wirklich nicht ins Direktorat zitieren
müssen.«
Caroline verdrehte die Augen. »In welchem Jahrhundert
lebst du denn? Noch nie was von der Null-Toleranz-Politik
gehört?« Auf dem Weg in die Küche warf Caroline einen Blick
in das riesige Wohnzimmer, und als sie kurz überschlug, wie
viel Arbeit allein in diesem einen Zimmer auf sie wartete, und
das mit der Zahl der übrigen Zimmer in der Wohnung multiplizierte, überfiel sie plötzlich eine lähmende Erschöpfung.
Rasch zog sie die beiden Flügeltüren zu, damit ihr wenigstens
der Anblick der unerledigten Arbeit erspart blieb, und folgte
ihrem Mann in die Küche.
»Soll ich dir was zum Essen richten?«, erbot sich Tony.
»Nein, danke«, wehrte Caroline ab. »Ich werde nur eine
Tasse Kaffee trinken.«
»Setz dich, ich mach das schon. Du siehst aus, als hätte man
dich durch die Mangel gedreht.«
Dankbar ließ Caroline sich auf den Stuhl sinken und begann
Tony zu berichten, was ihr auf dem Weg zur Schule
widerfahren war. »Ich musste ständig an Andrea und Brad
denken und plötzlich überfiel mich der schreckliche Gedanke,
dass das Ganze ein abgekartetes Spiel sein könnte.«
»Du bist überanstrengt«, sagte Tony. Er stellte eine
dampfende Tasse vor sie hin, setzte sich ihr gegenüber an den
Tisch und nahm ihre Hand in die seine. »Nach dem, was du
durchgemacht hast, ist es nicht verwunderlich, dass du solche
Angstvorstellungen entwickelst. Vielleicht solltest du dir
einfach eine längere Auszeit nehmen – ruf Claire an und sag
ihr, dass du eine Weile nicht arbeiten wirst.«
»Ich muss noch Irene Delamonds Wohnung fertig machen«,
seufzte Caroline. »Und ich stecke mitten in drei anderen
Projekten, alle in diesem Haus. Ganz zu schweigen von unserer
Wohnung«, fügte sie hinzu und musterte die altmodische
Küche mit einem leicht vorwurfsvollen Blick. »Was ist das
eigentlich für ein Haus? Ist hier jemals etwas modernisiert
worden?«
»Anscheinend haben wir nur auf dich gewartet«, gab Tony
zurück.
»Ich hätte gedacht, dass Lenore hier in der Küche etwas
verändert…« Sie ließ den Rest des Satzes verklingen, als sie
den Schatten bemerkte, der über Tonys Gesicht huschte,
nachdem sie den Namen seiner verstorbenen Frau erwähnt
hatte. Liebevoll drückte sie seine Hand. »Verzeih mir, ich –«
»Nein, ist schon gut«, sagte Tony, nachdem er sich wieder
unter Kontrolle hatte. »Wenn du über Brad sprechen kannst,
sollte ich auch in der Lage sein, über Lenore zu sprechen.«
»Oder wir reden überhaupt von etwas ganz anderem«, schlug
Caroline vor. »Zum Beispiel, wo ich einen Babysitter herbekomme?« Tonys verständnisloser Blick erinnerte sie daran,
dass sie ihm noch gar nichts von dem Gespräch mit dem
Schuldirektor erzählt hatte. »Ich habe noch mehr schlechte
Nachrichten: Ryan bleibt zwei Wochen zu Hause. Schulausschluss wegen dieser Rauferei.«
»Ausschluss? Du machst wohl Witze!«
»Ich wünschte, es wäre so.«
Schweigend hörte sich Tony ihren Bericht über das Gespräch
mit Ralph Winthrop an, doch als sie zum Ende kam, kniff er
wütend die Augen zusammen. »Vielleicht sollte ich mal ein
Wörtchen mit diesem Winthrop reden. Wenn elfjährige
Rotznasen ihre kleinen Kämpfe nicht ausfechten können, ohne
deshalb von der Schule verwiesen zu werden –«
»Keine gute Idee«, wandte Caroline ein, ehe er seinen
Gedankengang zu Ende führen konnte. »Damit erreichst du
nur, dass sie Ryan gleich rausschmeißen, und das möchte ich
ihm und mir nicht antun. Nein, ich muss nur jemanden finden,
der tagsüber hier ist, während ich arbeite.«
»Das könnte ich doch übernehmen«, erbot sich Tony.
Aber Caroline schüttelte bereits den Kopf. »Auch keine gute
Idee – nicht solange er solche Probleme mit dir hat. Ich werde
einfach meine Liste durchgehen und sehen, wer Zeit hat.« Eine
Stunde später hatte sie sämtliche Babysitter durchtelefoniert,
die sie je in Anspruch genommen hatte, aber ohne Erfolg. »Sie
sind alle ausgebucht«, sagte sie. »Außer Mrs. Jarvis, die ihr
Sohn vor drei Monaten ins Altersheim gesteckt hat.«
»Und wie wär’s mit einem der Nachbarn?«
Caroline starrte ihn mit
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