Mittsommerzauber
konnte man bis auf den felsigen Grund schauen.
Anna hielt es nicht mehr an Roberts Seite. In Windeseile rannte sie zum Ufer und schälte sich aus ihren Kleidungsstücken, und nackt bis auf Slip und BH tauchte sie die Zehen ins Wasser. Sie konnte es kaum erwarten. Wie lange sie das nicht mehr getan hatte! Zehn Jahre? Zwölf? Sie war ewig nicht mehr hier oben gewesen, aber immer hatte ihr Wochenende auf Märraberg mit demselben Ritual begonnen. Ihr Vater hatte drüben an der Straße angehalten, und sie war zum See gerannt, um ihre persönliche Mutprobe zu bestehen.
»Das musst du erleben!«, rief sie Robert zu. »Es ist wie im Paradies! Komm her! Mach mit!«
Sie wartete nicht, was er als Nächstes tat, sondern glitt mit einem Kopfsprung ins Wasser. Die Kälte war mörderisch, es war wie früher der absolute Kreislaufschock, doch als sie mit dem Kopf prustend die Wasseroberfläche durchstieß, schnappte sie glücklich nach Luft.
»Das ist wundervoll«, schrie sie so laut sie konnte. Sie watete an Land. »Komm schon!«
Robert näherte sich zögernd dem Ufer. »Du kannst doch nicht...«
Sie reichte ihm die Hand, doch als er sie zu sich heranziehen wollte, um ihr aus dem Wasser zu helfen, packte sie fester zu und zerrte ihn vorwärts. Erschrocken japsend rutschte er in voller Montur bis zur Brust ins Wasser.
»Gott im Himmel«, keuchte er. »Du bist verrückt! Ich habe alle Klamotten an, sogar die Schuhe! Und hier drin ist es eiskalt! Das sind doch maximal zehn Grad!«
Annas Schätzungen zufolge hatte das Wasser höchstens sechs oder sieben Grad, aber wen interessierte das?
Sie glitt näher und berührte mit den Handflächen seine Brust, zog spielerisch am Stoff seines Hemdes. »Gefällt es dir nicht?«
Er griff in ihr nasses Haar und bog ihren Kopf nach hinten. Seine Lippen bewegten, sich auf ihrer Haut wie Feuer auf Eis. Sie zogen eine sengende Spur von ihrer Kehle zwischen ihre Brüste, und Anna erschauerte.
Langsam beugte er sich über ihr Gesicht. »Ja«, murmelte er an ihrem geöffneten Mund. »Du hast Recht. Es ist wie im Paradies.«
*
Silvia schlenderte zwischen den Ständen hindurch und suchte Gemüse aus. Anschließend ging sie zu Ole, bei dem sie jeden Freitag Fisch kaufte. Berta hatte bereits ihre Wünsche geäußert, und da Silvia freitags immer Besorgungen in der Stadt erledigte, brachte sie die Zutaten fürs Abendessen meist frisch vom Markt mit.
Ole wog einen Lachs ab. »Der hier hat neunhundert Gramm, ist das in Ordnung?«
»Gib mir bitte noch einen dazu.« Sie hoffte darauf, dass Harald vielleicht bis zum Abendessen wieder da wäre.
Als sie Bertil zwischen den Ständen herankommen sah, war ihr erster Impuls, rasch zu verschwinden, doch er hatte sie bereits gesehen.
»Hej, Silvia.« Er kam näher und zeigte auf den Fisch, den Ole gerade einpackte. »Ist das nicht ein bisschen viel Fisch für dich allein?«
»Seit wann machst du dir darüber Gedanken, wie viel ich einkaufe?«
Silvia bereute die Zurechtweisung sofort, denn Bertil schaute sichtlich getroffen zur Seite.
»Ich meine ja nur«, sagte er. »Harald ist in Malmö, Anna unterwegs. Sie ist doch mit diesem Dahlström weg, oder?«
Silvia hatte keinen Grund, es abzustreiten. Dennoch hatte sie ein ungutes Gefühl, als sie seine Frage bejahte. »Ich bin froh, dass Anna ihm unseren Wald zeigt«, fügte sie vorsorglich hinzu. »Es ist wichtig für das Werk, dass Robert Dahlström mein Angebot annimmt.«
Bertil nickte, aber ihm war anzumerken, wie sehr er unter der Situation litt. Silvia seufzte unhörbar. Ihr war klar, was ihn umtrieb, aber das war eine Sache zwischen ihm und ihrer Tochter.
»Anna hatte schon immer ihren eigenen Kopf«, sagte sie.
Bertil hob die Schultern, dann nickte er abermals, mit demselben verbitterten Gesichtsausdruck, den er schon die ganze Zeit zeigte.
»Sie ist kein Mensch, den man einsperren darf«, fuhr Silvia fort.
»Aber ich will sie ja gar nicht einsperren! Sie hat mir doch damals selbst angeboten, in der Apotheke auszuhelfen!«
»Meine Tochter hat ein großes Herz, das ist richtig.« Silvia nahm den Beutel mit den Fischen entgegen und zahlte den von Ole genannten Preis, bevor sie sich wieder Bertil zuwandte. »Darüber vergisst sie manchmal ihre eigenen Bedürfnisse. Und dann, irgendwann, kann sie nicht mehr anders und bricht aus.«
»Auf ein Kreuzfahrtschiff?« Sein Gesicht war starr vor Sorge und Widerwillen, und Silvia erkannte, dass seine schlimmste Angst sich nicht auf Anna konzentrierte,
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