Mittsommerzauber
Namen rief. Auch im Stall war er nicht, ebenso wenig in der Nähe des Pferchs.
Die Herde war auf der Weide, also hatte sie jemand heute früh herausgelassen. Dieser Jemand war zweifelsohne David, denn sein Wagen war noch hier. Vermutlich war er mit dem Boot in die Stadt gefahren. Eva merkte, wie erleichtert sie darüber war, ein Gefühl, das von einer gewissen Beschämung begleitet war. Sie war schließlich wegen der Wolle hier, nicht wegen eines Mannes, der zufällig auch noch gebunden war.
Sie lehnte sich an das Gatter und schaute den Schafen beim Grasen zu. Da vorn war genug Wolle, um hunderte von Pullovern zu stricken. Man musste sie nur irgendwie von den Schafen in die Spinnerei schaffen. Rein theoretisch wusste Eva inzwischen alles über die Schafschur, aber praktisch hatte sie davon so viel Ahnung wie ein Schwein vom Fliegen. Sie würde es gar nicht erst versuchen. Doch
natürlich würde sie David fragen, vielleicht wusste er eine Lösung.
Die Tiere machten einen friedlichen Eindruck, doch dann entstand an einer Stelle plötzliche Unruhe. Eines der neugeborenen Lämmer blökte jämmerlich und stakste auf wackligen Beinen hinter einem Mutterschaf her, das ungerührt davontrottete. Immer wieder versuchte das Lamm, an seine Nahrungsquelle zu gelangen, doch es war offensichtlich, dass die Mutter es nicht annahm.
»Wie gut, dass es das Internet gibt«, murmelte Eva. Sie war bereits losgelaufen, um sich um dieses neue Problem zu kümmern.
*
David wollte nicht lauschen, doch da die Tür des Krankenzimmers offen stand, konnte er nicht umhin, die letzten Sätze der Unterhaltung aufzuschnappen.
Eine fremde Männerstimme sagte: »Dich hat’s ja ganz schön erwischt, Alter.«
»Wer sagt das?«, gab Gustav zurück.
»Alle. Es heißt, dass du den Hof aufgibst.«
»Blödsinn. In ein paar Tagen bin ich hier wieder raus.«
»Na, dann ist ja gut«, sagte der Besucher. »Wenn du länger ausfallen würdest, müsste ich mich nach einem anderen Käse umschauen.«
»Red nicht so einen Quatsch«, antwortete Gustav. »Wir haben einen Vertrag!«
»Den haben wir nur so lange, wie du lieferst.«
»Ich liefere. Verlass dich drauf.«
»Gut. Dann war’s das auch schon. Ich komme Montag und hole die übliche Menge.«
Im nächsten Moment näherten sich Schritte der Tür,
und David trat zur Seite, um den Mann vorbeizulassen, einen griesgrämig aussehenden Burschen mit schütteren Haaren und dicken Tränensäcken. Grußlos ging er an David vorbei und verschwand in Richtung Ausgang.
David betrat das Zimmer. »Morgen, Gustav. Wie geht es dir?«
»Blendend«, sagte Gustav mürrisch. »Leute wie ich fühlen sich in stinkenden Krankenhäusern am wohlsten.« Er schaute zu David auf. »Was willst du hier?«
»Ich habe Monica versprochen, mich ein bisschen um dich zu kümmern.« David stellte die Tasche ab, die er mitgebracht hatte. Er holte den Pyjama und den Bademantel heraus und wollte beides in den Schrank hängen, doch Gustav befahl ihm hastig, es über den Stuhl zu legen. Gallig setzte er hinzu, er wolle möglichst schnell das Leichenhemd loswerden.
David blieb noch eine Weile und versuchte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, doch Gustav blieb einsilbig und in sich gekehrt. Schließlich kam die Visite, und David musste gehen. Er versprach Gustav, sich um alles zu kümmern, was dieser immerhin mit einem halbwegs dankbaren Kopfnicken quittierte.
Während der Rückfahrt dachte David über die Sache mit der Käselieferung nach. Er hatte versucht, Gustav darauf anzusprechen, doch der Alte hatte nur abgewinkt. Er werde das schon deichseln, hatte er behauptet. Doch David hatte beim Verlassen des Zimmers noch gehört, was der Arzt gesagt hatte. Gustav sollte so bald wie möglich operiert werden. Folglich war seine Vorstellung, den Käse liefern zu können, völlig illusorisch.
Nachdem er das Boot am Steg vertäut hatte, schaute er nach den Schafen. Als er am Pferch vorbeikam, sah er dort ein Blatt Papier liegen. Er hob es auf und betrachtete es.
»Na, so was«, sagte er laut und verblüfft. Er merkte, wie sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, und hastig schaute er sich um, ob sie irgendwo zu sehen war.
Die Stalltür stand offen, und er stolperte beinahe in seinem Bemühen, so schnell wie möglich dort hinzukommen. Als er ins Innere des Stalls schaute, bot sich ihm ein denkwürdiges Bild. Eva hockte auf einem der Strohballen, eines der Lämmer auf dem Schoß. Sie gab ihm die Flasche und gurrte
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