Mittsommerzauber
dem Auto und suchte mit den Augen den Schulhof ab. Wie so oft verspürte sie in so einer Situation ein brennendes Gefühl der Panik in der Magengegend. Was würde sie tun, wenn Annicka nicht mehr da war?
Doch bevor die Panik sie überwältigen konnte, sah Katarina sie da sitzen. Auf der breiten Treppe, die zu dem alten Schulgebäude hoch führte. In der gleißenden Sonne: ihre Tochter Annicka. Das zarte blonde Mädchen saß da, den neuesten Harry-Potter-Band auf den Knien, in den sie vollkommen versunken war. Auf dem Kopf die Kopfhörer ihres Minidisc-Players. Die Welt um Annicka herum schien nicht mehr zu existieren. Sie befand sich an der Seite von Harry und Hermine in Hogwarts.
Annicka hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug einen roten kurzen Rock und ein rosa T-Shirt, ihre langen dünnen Beine steckten in bunten Ringelsocken, die Füße in den roten Schuhen, die sie erst vor ein paar Tagen im Kaufhaus NK von Katarina erbettelt hatte. Dabei hatte sie eigentlich ein Paar praktische Laufschuhe bekommen sollen, doch Annicka hatte ihre Mutter mit der unendlichen Geduld und Hartnäckigkeit eines Kindes, das unbedingt etwas haben will, davon überzeugt, dass sie Zeit ihres Lebens einen Schaden mit sich herumtragen würde, wenn dieser vor ihr liegende Sommer nicht seine absolute Krönung in diesen wundervollen roten Schuhen erleben würde.
Katarinas Herz machte einen Sprung. Wie sehr sie dieses Kind liebte! Wie froh sie war, es zu haben. Auch wenn das Leben als allein erziehende Mutter wirklich nicht immer ganz einfach war. Doch der Anblick ihrer Tochter entschädigte sie in diesem Moment für alles.
Und jetzt hob Annicka den Kopf. Sie hatte das Auto ihrer Mutter zwar nicht herankommen hören, aber es war, als spüre sie, dass Katarina endlich da war. Ihre Augen, von denen Katarina immer behauptete, sie hätten das irisierende Blau des Siljan-Sees kurz vor einem Gewitter im August, strahlten auf, als sie ihre Mutter sah. Sie sprang auf, raffte Ranzen, Buch, Musik und Jacke zusammen und sauste auf Katarina zu.
Die fing die Tochter auf und wirbelte sie im Kreis herum. Und entschuldigte sich dabei wortreich wie immer.
»Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Ich bin so eine schreckliche Mutter. Aber ich bin einfach nicht früher weggekommen, ich habe dieses neue Rezept gemacht, das ich neulich zu Hause...« Sie hielt inne, sah Annicka in die Augen. »Verzeihst du mir? Noch einmal?«
Annicka lachte sie fröhlich an.
»Es sind bloß zwanzig Minuten, Mama. Du wirst immer besser. Und in den Ferien wirst du genug Zeit haben, an dir zu arbeiten.«
»Es wird die Zeit kommen, da stehe ich eine halbe Stunde vor Schulschluss da. Und dann bin ich diejenige, die warten muss.« Katarina verzog das Gesicht bei diesem unvorstellbaren Gedanken. Annicka drückte sich lachend an sie.
»Guter Witz. Du, ich war ganz schön gut dieses Jahr. Ich hab fast überall 15 oder 20 Punkte.«
»Das ist ja toll. Ich bin so stolz auf dich!« Katarina küsste ihre Tochter. Herzte sie ungestüm. Womit hatte sie nur dieses Kind verdient? Nicht nur, dass Annicka mit ihren langen dunkelblonden Haaren, den blauen Augen und der zarten, durchsichtigen Sommersprossenhaut ein ungewöhnlich hübsches Mädchen war, sie hatte auch Humor und eine schier unerschöpfliche Geduld mit ihrer chaotischen Mutter.
Annicka wühlte schon in ihrem Ranzen, zog schließlich ein Blatt hervor und drückte es Katarina in die Hand. Ihr Zeugnis. Katarina studierte es, während sie den Arm um ihre Tochter legte und mit ihr zum Auto ging.
»Unfassbar, 20 Punkte in Rechnen und im Diktat. Und in Kunst... Woher hast du das nur?«
Dieses Kind war ihr wirklich ein Rätsel. Dass sie in Kunst so gut war, okay. Die kreative Ader hatte sie von ihr, das leuchtete ein. Aber in Rechnen? Für Katarina war Mathematik immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Und dass sie nicht jedes Jahr mit null Punkten abschließen musste, hatte sie damals nur der Großzügigkeit ihrer besten Freundin Astrid zu verdanken, die sie als wahres Mathe-Genie immer hatte abschreiben lassen, nicht zuletzt bei den Hausaufgaben. Inzwischen war sie Professorin für Mathematik an der Universität von Uppsala.
Annicka nahm Katarina das Zeugnis wieder aus der Hand. Drängte sich an ihre Mutter.
»Können wir fahren? Ich hab so einen Hunger.«
»Klar können wir das. Was willst du? Pizza? Oder sollen wir uns schon mal eine Paella gönnen. Als Vorgeschmack auf die Ferien?«
»Paella nur in Spanien,
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